Teil zwei – Kapitel 2 – 3
Endlich wieder Sonntag! Letzte Woche habt ihr Laurien kennengelernt, und mit ihr (und Perakín) geht es nun auch weiter. Bevor die beiden auf Kanemô treffen, müssen noch ein paar andere Dinge geschehen. Ich bin gespannt, wie es euch gefallen wird! Eiskaffee schlürfend wartet vor einem anderen Bildschirm: eure Jenny.
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2.
Laurien eilte durch die Flure des Palasts, vorbei an eingeworfenen Fenstern und zerborstenen Bodenfliesen. Immerhin waren die Blutlachen aufgewischt worden. Aber sie glaubte den Tod noch riechen zu können, den so viele hier gefunden hatten.
Sie hatte nicht nur ein Lager für die drei Weisen vom Brunnen herrichten lassen, sondern auch für den gerade angekommenen Fürst Githeon mit seinen beiden Söhnen und ihren Truppen. Dann hatte sie Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, damit sie heute Abend ein anständiges Mahl bekamen und nicht den üblichen Eintopf des Heeres. Bei all den Vorbereitungen hatte sie die Zeit aus den Augen verloren und nun war sie spät dran für die Versammlung. Vielleicht hatte sie sich auch absichtlich verspätet … Ein Teil von ihr fürchtete das Wiedersehen mit Perakín.
Sie erreichte eine lange Halle, von der Dutzende Bogengänge abgingen und eine breite Treppe hinab in den Hof führte. Auf dieser Treppe war König Sagamenon von Heganen, dem Anführer der Rebellion, erschlagen worden. Über die Stufen zogen sich noch die schwarzen Blutspuren.
Heganen hielt alle Sitzungen mit seinen Generälen und Verbündeten nun hier ab. Bevor Laurien näher kam, strich sie ihr Haar vor ihre vernarbte rechte Gesichtshälfte. Dann umschloss sie den Griff ihres Schwertes am Gürtel und versuchte so zu gehen, als wären ihre Beine nicht weich wie Wachs.
Die Treppe war voller Menschen und Hohe Elfen aus Madgar Yhs. Auch unten im Hof hatte sich eine Menge versammelt. Auf dem oberen Treppenabsatz saßen Heganen, dessen engste Generäle und Verbündete, die drei Weisen vom Brunnen und Fürst Githeon mit seinen Söhnen.
Laurien nickte ihnen zu, als sie sie bemerkten, und deutete eine Verneigung vor Heganen an, ehe sie sich gegen eine Säule lehnte und den Blick über die Menge schweifen ließ. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte Perakín nur für einen Sekundenbruchteil gesehen. Sie war nicht in der Lage gewesen, seinen Blick zu erwidern. Auf keinen Fall konnte sie sich zu ihnen setzen, obwohl ihr Rang als Befehlshaberin des Elfenheeres eigentlich erforderte, dass sie sich in Heganens engstem Kreis zeigte. Innerlich schalt sie sich für ihre Feigheit.
Fürst Githeon fuhr fort, von ihrem Sieg zu berichten. Sie hatten Fürst Otana angegriffen, aber der Fürst und ein Teil seiner Männer hatten sich auf seine Burg zurückziehen können. Nach erbitterten Schlachten hatten die Rebellen sie jedoch schließlich eingenommen. Die dramatische Schilderung der Kämpfe wurde immer wieder von Jubel und Klatschen unterbrochen.
Endlich wagte Laurien einen weiteren Blick. Heganen saß in der Mitte, den Kopf abgewandt, um Fürst Githeon zuzuhören. Der Fürst war ein graubärtiger Mann mit der Statur eines Stiers, aber seine Augen, hell und wach, hatten etwas Kindliches an sich, so wie Perakíns. Neben ihm saß Gerothen, der wie eine jüngere Version seines Vaters aussah. Allerdings hatte er dunklere Haut und ein schmaleres Gesicht mit hervortretenden Augen. Wie alle Männer, die sich der Rebellion angeschlossen hatten, rasierten sich auch der Fürst und seine Söhne mittlerweile den Schädel. Nur eine Strähne entlang der linken Schläfe hatten sie zu einem dünnen Zopf geflochten, um zu zeigen, wie lange sie schon gegen Ivenhall kämpften.
Perakín saß mit dem Rücken zu ihr. Fast hätte sie ihn nicht wiedererkannt. Er war größer und viel kräftiger geworden. Ihr Blick wanderte an seinen Armen und Schultern entlang, über den braunen Nacken und die anmutige Wölbung seines Hinterkopfes. Der kahl geschorene – oder eher stoppelige – Schädel stand ihm gut, auch wenn sie mit Wehmut an sein zerzaustes Haar dachte. Jetzt würde ihn niemand mehr als Halbwüchsigen bezeichnen.
Er blickte in die Menge im Hof und Laurien betrachtete sein Profil. Das Gefühl, das sie dabei überkam, war beinahe Schmerz. Er hatte die Augenbrauen leicht hochgezogen, als dächte er über etwas Trauriges nach. Ein verwilderter, noch in den Anfängen steckender Bart vertuschte die schöne Form seiner Lippen und seines Kinns. Aber selbst das stand ihm gut.
Laurien merkte, dass sie zu atmen aufgehört hatte. Sie seufzte flach und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Eine Unterhaltung vor zwei Jahren, mehr war es nicht gewesen. Wie oft sie seitdem an ihn gedacht hatte, war überhaupt nicht zu rechtfertigen. Niemand durfte es je erfahren.
„Aber Fürst Korigan ist noch nicht besiegt. Er hat sich auf seiner Festung verschanzt und all unseren Versuchen, Ofeha einzunehmen, getrotzt“, sagte Perakín in die Menge.
Laurien war dem Gespräch nicht gefolgt, doch seine Stimme bereitete ihr eine Gänsehaut.
Du bist besonders. Aber das weißt du.
„Ofeha wurde noch nie eingenommen“, fuhr er fort. „Dank der Wasserfälle und der Fischteiche innerhalb der Burg können sie sich jahrelang selbst versorgen, selbst wenn ihre Vorräte aufgebraucht sind. Und vermutlich gibt es geheime Wege hinein und hinaus durch die Berge, die der Fürst benutzt, um Botschaften zu schicken und Nahrung und Waffen zu beschaffen.“
Heganen wiederholte nachdenklich: „Ofeha wurde noch nie von Kriegern zu Fuß und zu Pferd eingenommen. Aber mit den Bestien, die der Eisenturm noch beherbergt, könnte es gehen. Mit Drachen wäre es sogar einfach.“
Nun wurde es sehr still auf der Treppe und im Hof.
„Was deutest du damit an, Heganen?“, fragte Alarion, die Weise vom Brunnen.
„Ich denke nur laut nach“, entgegnete der Anführer der Rebellion. „Der Eisenturm ist noch voller Werkatzen, Einhörner, Nardenbären und Greife.“
„Bestien, die nur dem königlichen Blut Ivenhalls gehorchen“, erinnerte Alarion. Ihre Stimme war schärfer geworden. „Und haben wir nicht dafür gekämpft, dass nie wieder ein Menschenkönig seine Bestien auf uns loslässt? Da wir nun davon sprechen: Als wir uns gegen das Großreich Ivenhall verbündeten, schlossen wir ein Abkommen. Nun ist es an der Zeit, den Pakt zu erfüllen. Gajadis, Niran und ich sind gekommen, um den Zauberkessel zu zerstören. Auch die Bestien, die noch im Eisenturm eigesperrt sind, sollen einen raschen Tod finden.“
„Ich erinnere mich an das Abkommen“, sagte Heganen. „Und ich bin froh, dass Ihr so schnell gekommen seid, um den Zauberkessel zu vernichten. Wir alle wollen, dass es keine Bestien mehr gibt. Aber noch gibt es welche … und noch gibt es Fürsten, die uns bekriegen.“
„Die Hohen Elfen von Madgar Yhs werden nicht unterstützen, dass du oder sonst jemand Bestien im Krieg einsetzt“, sagte Alarion hart.
„Das habe ich auch nicht vor“, erwiderte Heganen ruhig. „Schließlich würden die Bestien mir auch nicht gehorchen, da in mir kein königliches Blut fließt. Aber noch gibt es jemanden, dem die Bestien gehorchen würden: die Tochter König Sagamenons.“
„Darum müssen wir die Bestien töten“, erklärte Alarion.
„Die Königstochter stellt auch unabhängig davon eine Gefahr für uns dar“, fuhr Heganen fort, ohne darauf einzugehen. „Es ist denkbar, dass Fürst Korigan die Königstochter zu sich holt, mit einem seiner Söhne vermählt und diesen so zum rechtmäßigen Thronfolger von Ivenhall macht.“
„Die unentschlossenen Fürsten des Ostens würden ihn anerkennen!“, knurrte Gerothen.
„Wir müssen die Prinzessin finden, bevor sie Fürst Korigan in die Hände fällt – oder sonst jemandem, der aus dem alten Gesetz Nutzen ziehen will“, erklärte Fürst Githeon. Er legte den Kopf schief. „Außerdem sollten wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass du, Heganen, die Königstochter ehelichst. Lasst mich ausreden! Warum die Chance nicht ergreifen, um von den Fürsten des Ostens anerkannt zu werden – ganz ohne Blutvergießen? Sieben Jahre haben wir gekämpft. Mir scheint, wir sollten nicht aus falschem Stolz weiter Krieg führen.“
Jubel brach aus, durchsetzt von nur wenigen Buhrufen. Laurien konnte es nicht fassen. Sie wusste, dass viele Heganen auf dem Thron sehen wollten, obwohl die Abschaffung des Königtums zugunsten der Unabhängigkeit der Territorien gerade der Sinn der Rebellion gewesen war, zumindest ursprünglich. Aber dass Heganen dafür die Prinzessin heiraten sollte – die Tochter des Mannes, den er wenige Tage zuvor auf diesen Stufen erschlagen hatte, direkte Nachkommin der Tyrannen von Ivenhall –, war für Laurien so wahnwitzig, dass sie nie darauf gekommen wäre. Doch der Großteil der Menge applaudierte!
Die drei Weisen vom Brunnen saßen reglos neben den Menschen, als wären sie erstarrt.
Heganen stand auf und hob die Arme. Seine Anhänger verstummten. Er wandte sich an Fürst Githeon: „Ich bin dankbar für deinen klugen Rat, der uns schon oft zum Ziel geführt hat. Es stimmt: Solange die Fürsten des Ostens und Fürst Korigan nicht auf unserer Seite stehen oder besiegt sind, geht die Rebellion weiter. Wir haben sieben Jahre gekämpft. Wir haben unsere Familien, unsere Freunde und Kameraden sterben sehen. Keiner von uns will, dass der Krieg weitergeht. Wenn es einen friedlichen Weg gibt, unser Ziel zu erreichen, dann werde ich ihn gehen! Aber eins sollte jeder wissen: Das Königreich Ivenhall ist vernichtet. Nie wieder wird uns ein König mit seinen Bestien tyrannisieren!“
Der Jubel war ohrenbetäubend. Abermals hob Heganen die Arme, um die Menge zu beruhigen.
„Ihr habt Recht, ehrenwerte Weise vom Brunnen, dass es keine Bestien mehr geben sollte. Steigt auf den Eisenturm und zerstört den Zauberkessel, sobald ihr euch ausgeruht habt. Dann überlegen wir uns, wie wir die Bestien loswerden, die noch im Eisenturm sind.“ Er wandte sich an Fürst Githeon: „Du hast Recht, mein Freund, dass wir die Prinzessin finden müssen, bevor ein anderer es tut. Wir werden die königlichen Archive durchsuchen, bis wir ihr Versteck kennen. Da du auf die Idee gekommen bist, willst du es übernehmen, die Prinzessin herzubringen?“
Es war Alarion anzusehen, dass sie am liebsten darauf bestanden hätte, dass die Königstochter ebenfalls getötet wurde, anstatt sie herzuschaffen – hierher, wo es noch Bestien gab, die ihr aufgrund ihres königlichen Blutes gehorchen würden. Aber die Weise vom Brunnen wagte es offenbar nicht, so viel Kälte zuzugeben.
Fürst Githeon stand auf und reichte Heganen die Hand. „Ich danke dir für dein Vertrauen, Heganen. Sobald wir wissen, wo das Versteck der Prinzessin ist, wird mein Sohn Perakín sie holen.“
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3.
Laurien hatte den großen Festsaal des Palasts räumen lassen, damit dort alle Männer Fürst Githeons mit den Anführern des Heeres der Rebellen und den drei Weisen vom Brunnen gemeinsam das Abendmahl einnehmen konnten. Zwar hatte ein Feuer eine Wand des Saales rußgeschwärzt und die meisten Fenster waren zerborsten, aber niemand störte sich daran, im Gegenteil – sie waren stolz auf die Verwüstung, weil es ihr Werk war.
Bei der Eroberung Ivenhalls hatten die Rebellen nur halb volle Vorratskammern vorgefunden, denn die Belagerung hatte lange gedauert. Für den heutigen Anlass hatte Laurien die Aufseher der Vorräte dazu bringen können, gesiebtes Mehl und ein paar andere Delikatessen, sogar Kristallzucker, zu entbehren. Auf den Tischen türmten sich herzhaft und süß gefüllte Kuchen mit Safranpudding und geschlagener Sahne, frische Fladenbrote und Kräuterbutter, gegrillte Schwäne und Spanferkel, in Teig frittierte Kastanien und frische Äpfel und Birnen mit Rahmkäse. Man teilte sich große Pokale voll süßen Weins und dunkles, schäumendes Bier aus Fässern.
Laurien wanderte zwischen den Bänken umher, um mit ihren eigenen Leuten und den Menschen zu plaudern. Nach einer kurzen Begrüßung des Fürsten und seiner Söhne nach der Versammlung auf der Treppe hatte sie es vermieden, in Perakíns Nähe zu sein. Hauptsächlich, weil sie das Gefühl hatte zu sterben, wenn er sie ansah. Dennoch, sie spürte seine Gegenwart, wie die Kompassnadel den Norden spürte.
Bald begannen ein paar Elfen und Menschen zu musizieren, und die Truppen stimmten in den Chor mit ein, dass die Steinmauern bebten. Die langen Abende im Heer hatten dazu geführt, dass sich elfische und menschliche Melodien vermischt hatten, und die beliebtesten Lieder beinhalteten elfische Flöten, menschliche Lauten und die ganze Bandbreite schmutziger Wörter aus beiden Sprachen. Laurien hatte selbst das eine oder andere Lied am Lagerfeuer erfunden. Unabhängig davon, wie sie aussah – ihr Gesang war schön, das wusste sie. Die Entstellte mit der Stimme einer Nachtigall. So lautete eine der netteren Bezeichnungen, die man für sie hatte.
Die Verbrennung durch die Kriechglut, die in Glaskugeln nach dem Feind geworfen wurde, zog sich von ihrem Hals bis hinauf zur Nase und hatte das Haar über ihrem rechten Ohr versengt. Nur wenn sie sang, konnte sie vergessen, wie sie aussah. Wer ihr zuhörte, schloss die Augen und fühlte, was sie fühlte.
Nach mehreren fröhlichen und derben Liedern schlug ein Lautenspieler ein Lied an, das Laurien erfunden hatte. Es war langsam, schwermütig und zart. Stille breitete sich auf den Bänken aus und alle lauschten andächtig. Die anderen Musiker stimmten mit ihren Instrumenten ein. Ein alter Mann sang den Refrain:
Verklungen sind die Schreie unsrer Feinde
und der Bestien Fauchen.
Wo ist der Freund, der um die Toten weinte?
Das Feuer ist jetzt leis am Rauchen.
Und alles, alles wär mir lieber
als der Vögel frohe Lieder.
Ein anderer unterbrach ihn: „Doch nicht dein Gejaule!“
Gelächter erscholl. Zwischen den beiden Männern entbrannte ein fröhliches Wortgefecht.
Perakín stand auf. „Bitte, beruhigt euch! Und singt weiter. Es ist wunderschön. Ich würde gern hören, wie es …“
„Wo ist Laurien?“, rief jemand. „Laurien soll ihr Lied singen!“
„Laurien!“, forderten nun mehrere. „Wo ist sie?“
Laurien hatte sich in den Schatten eines Gangs zurückgezogen. Es ist wunderschön. Sie könnte – ja, sie könnte vor ihm singen. Er hatte sie nie singen hören. Aber die Feuerschalen brannten hell und er würde ihre Entstellung sehen. Nein, keinen Ton würde sie hervorbringen!
Sie wich tiefer in den dunklen Gang zurück. Verwunderte Rufe wurden laut, weil man sie nirgends entdeckte. Der fröhliche Lärm zerfiel in Einzelgespräche. Bald setzten die Instrumente wieder ein, und andere Sänger fanden sich, um ihr Lied zum Besten zu geben.
Laurien lief durch den Gang davon.
Frische Luft schien eine gute Idee zu sein, also wanderte Laurien auf der Palastmauer entlang. Wo ein Teil der Mauer eingestürzt war, führte ein Hang aus Trümmern geradewegs in die Stadt hinab. Dutzende Häuser waren unter dem Geröll begraben worden. Sie setzte sich auf einen Steinquader, der aus der geborstenen Mauer ragte, und ließ die Füße über den Abgrund baumeln. Nachdem sie dem Tod in unzähligen Schlachten ins Auge geblickt hatte, machte ihr nicht mehr viel Angst. Jedenfalls keine körperlichen Gefahren.
Der Wind berührte ihr Gesicht. Sie strich sich das Haar zurück und atmete tief aus, um nicht zu seufzen … oder gar zu schluchzen. Sie wollte nicht einmal darüber nachdenken, warum. Perakín flirrte wie ein blendendes Licht durch ihr Bewusstsein, und sie beschloss, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Sie erinnerte sich an Faisah, ihren Ausbilder und Heerführer, der vor zwei Jahren gefallen war – ein unerwarteter, viel zu früher Tod. König Sagamenon hatte ihn in einen Hinterhalt gelockt. Er hatte den Hohen Elfen und den Rebellen ein Treffen angeboten, um zu verhandeln. Die Rebellen waren darauf nicht hereingefallen, aber Faisah war gegangen.
„Selbst wenn es eine Falle ist“, hatte der oberste Befehlshaber des elfischen Heeres an ihrem letzten gemeinsamen Abend am Feuer gesagt, „werde ich nicht bereuen, gegangen zu sein. Kämpfen wir nicht für eine Welt, in der ein Wort zählt, selbst das unserer Feinde? Um diese Welt zu verwirklichen, müssen wir sie leben. Ich will lieber vertrauen und sterben als zu misstrauen und damit aufrechtzuerhalten, was ich besiegen will.“
Wie sehr hatte sie ihn bewundert. Es war leicht, schöne Worte zu bewundern, ehe man den Preis für sie bezahlte. Und Laurien bezahlte ihn am nächsten Tag, als sie Faisah aus den ätzenden Flammen der Kriechglut zog und die Flammen ihr das Gesicht zerfraßen.
Sie hatte Faisah nicht retten können. Ebenso wenig wie ihre Mutter damals, die den Schnaps und die gnädigen Träume des Violettenkrauts ihrer Tochter und dem Leben vorgezogen hatte. Die Tatsache, dass Faisah seinen Tod tapfer in Kauf genommen hatte, spendete ihr dabei keinen Trost.
Wie so oft, wenn sie in Erinnerungen versank, begann sie das Findelicht zu befühlen, das sie unter ihrem Ärmel um ihren Arm gebunden trug. Jedes Neugeborene in Madgar Yhs erhielt einen Splitter, geschlagen aus den Höhlen des heiligen Brunnens, und die Weisen vom Brunnen konnten an seiner Form ablesen, welches Schicksal das Neugeborene erwartete. Nur wer ein Findelicht besaß, fand außerdem den Weg nach Madgar Yhs, darum trugen Hohe Elfen ihren Geburtsstein an einer Kette, einem Ohrring, einem Armband, Fußreif oder Haarzopf zu allen Zeiten bei sich. Faisah hatte ihr sein Findelicht geschenkt, als der Krieg ausbrach.
„Egal, wo du geboren wurdest“, hatte er gesagt, „du bist eine Hohe Elfe von Madgar Yhs. Vergiss das nicht.“
Spätestens da war sie sich sicher gewesen, dass er in Wahrheit ihr Vater war … Aber sie hatte sich nicht getraut, ihn zu fragen, und nun war es zu spät.
Unter ihr in der Dunkelheit erscholl das helle Lachen einer Frau. Gestalten kamen die Trümmer herauf, taumelten und jauchzten und ermahnten sich mehr im Spaß als im Ernst, leise zu sein. Es waren Rebellen mit Frauen aus der Stadt. In den letzten Tagen hatte Laurien immer öfter neugierig kichernde Bürgerinnen im Palast bemerkt. Nun, das war vermutlich besser, als wenn die Krieger durch die Straßen zogen und sich gewisse Freiheiten denen gegenüber herausnahmen, die sie „befreit“ hatten. Dennoch erfüllten auch die fröhlichen Eindringlinge in den Palast Laurien mit Abscheu und Bitterkeit. Und sie schämte sich noch mehr.
„Ist hübsch hier“, sagte eine Stimme neben ihr.
Fast wäre sie in die Tiefe gestürzt.
Perakín!
Er kletterte zu ihr. „Nur leider viel zu kalt. Ich beneide dich um dein elfisches Blut. Du frierst nie, oder?“
„Doch.“ Im Moment glühte sie jedoch so, dass sie vermutlich einen Abdruck im Stein hinterlassen würde.
Sie wandte sich ab, vorgeblich, um die Stadt zu betrachten, die der Nacht mit unzähligen Lichtern trotzte. Innerlich verfluchte sie sich dafür, ihr Haar zurückgestrichen zu haben. Es sich jetzt nach vorn fallen zu lassen, würde nur ihre Eitelkeit offenbaren. Zum Glück saß er links von ihr, auf ihrer guten Seite.
„Sieg über Ivenhall!“, rief er aus. „Wer hätte das gedacht? Der König tot … und wir hier!“
Sie hörte jetzt seiner Stimme an, dass er betrunken war. Unter ihnen in den Trümmern quietschte jemand auf. Perakín fuhr zusammen und hatte seine Hand am Schwertknauf, bevor das Quietschen in ein sinnliches Seufzen überging – er ließ den Schwertknauf los.
„Sieg!“, spottete er.
Eine Weile schwiegen sie, Laurien glühend bis in die Ohrspitzen.
„Aber es wird niemals enden“, fuhr Perakín dann fort, offenbar in ganz andere Gedanken versunken. „Wie sollte die Gewalt jemals enden? Wir haben uns für Krieg entschieden und jetzt steckt Krieg in uns drin. Entschuldige, ich habe Wein getrunken.“
„Wir alle wollen, dass der Krieg aufhört. Aber dafür die Prinzessin zu entführen und Heganen zur Braut zu geben, geht zu weit“, sagte sie, ohne Kontrolle über ihren harten Tonfall zu haben. „Dafür haben wir nicht gekämpft – damit es am Ende einen neuen König von Ivenhall gibt!“
„Nein. Das haben wir nicht“, gab er zu.
Wut regte sich in ihr. Nicht einmal Perakín konnte sie diesen Verrat an den Idealen der Rebellion verzeihen.
„Ich werde die Prinzessin nicht entführen“, sagte er leise. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich dem Befehl meines Vaters verweigere. Ich habe es ihm schon gesagt. Mein Bruder Gerothen hat sich bereit erklärt, es an meiner Stelle zu tun. Und so können wir alle meinen Ungehorsam verheimlichen, wie immer, und ich muss keine Konsequenzen für mein Handeln fürchten.“
Sie sah, wie er mit den Zähnen mahlte. „Warum machst du’s nicht?“
„Ich bin gar nicht sicher, ob Krieg besser ist, als die Fürsten auf diese gesetzmäßige feige Weise zu befrieden. Ich … sehe keine Lösung. Und ich bin es leid, Lösungen zu suchen. Ich will, dass es endet.“
Sie sah ihn an. In diesem Augenblick wusste sie, dass sie sich in den letzten zwei Jahren nicht getäuscht hatte. Er war wirklich das unwahrscheinliche Geschöpf, das sie durch so viele Tagträume begleitet hatte. Wenn sie ihn berühren könnte … um dann glücklich in den Abgrund zu stürzen!
Er erwiderte ihren Blick. Doch sie merkte, dass er sich zwingen musste, vor ihrer Entstellung nicht zurückzuweichen. Ein vages Lächeln stand in seinen Augen. Sie kannte dieses Lächeln. Sie wusste, was es ausdrückte: Mitleid.
„Ich bin froh, dass wir uns wiedersehen“, sagte er.
Bevor er ihr kameradschaftlich auf die Schulter klopfen konnte, erhob sie sich und ließ ihr Haar vor ihr Gesicht gleiten. Mit einem großen Schritt war sie an ihm vorbeigestiegen. „Es ist kalt. Wenn du mich entschuldigst … Willkommen in Ivenhall, Bruder.“
Moin Moin :-)
also auch hier ist es immer noch spannend. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, die einem Verändern, manche Dinge sieht man auf Anhieb, manches erst beim nähreren Betrachten. (Und manches, ändert sich nie :-p ) Man merkt hier halt schon, das sie nach diesen Veränderungen sucht, und diese bemerkt und es aber nicht als schwerwiegend einstuft, sondern als gegeben und schön. Dennoch hat sie Hemmungen, ihm gegen über. Einerseits finde ich die Reaktion, natürlich, das sie auf Distanz geht, anderer Seits verdrehe ich dabei immer die Augen und denke, redet doch einfach mit einander, würde vieles einfacher machen :-D (vermutlich aber auch zu einfach :-p)
Zu den Rebellen selbst, auf einer Seite gegen das Königshaus sein, und dann den Vorschlag bekommen, es doch zu erhalten…. erinnert mich irgendwie an unsere Politiker, die erst so erzählen und dann doch wieder umschwenken und dann genau das tun, was sie gar nicht tun wollten. Ich gehe auch hier jede Wette ein, das am Ende doch noch alles ganz anders Verläuft, als Ursprünglich geplant :-p
Ich lasse mich einfach überraschen und kann es kaum erwarten weiter zu lesen :-)
(vor allem weil mich auch interssieren würde, wie seine Gedankengänge sind, ihr gegebenüber XD )
Grüßle
Taroru
Hallo Taroru!
Ich wusste beim Schreiben auch noch nicht so ganz, was Perakín eigentlich über Laurien denkt. Manchmal haben Figuren ihre Geheimnisse vor mir und verraten sie erst später. :)
Und ja, an das Verhalten heutiger Politiker (oder Politiker allgemein) musste ich bei Heganen und den Rebellen auch denken. Es ist eben viel leichter, etwas zu zerstören als etwas aufzubauen, und die Idee war, dass die Rebellen gar nicht wirklich alles zerstören, wie sie versprochen haben, sondern das alles ein bisschen Show ist. In Wahrheit wollen sie die Machtstrukturen erhalten, nun, da sie an der Spitze sind.
Oh, und wenn Figuren miteinander offen reden würden, gäbe es keine komplizierten Verwicklungen und spannenden Plots, das hast du ganz richtig erkannt. :D
Ein bisschen ärgere ich mich ja gerade über Laurien. Mit ihrer Angst, wie sie dauernd das Schlimmste von Perakín befürchtet (sowohl in Bezug auf dessen eigene Veränderung, aber vor allem auch in der Antizipation seiner Reaktion auf ihr Gesicht) steht sie sich unglaublich selbst im Weg. Es ist ein sehr übler, aber leider auch geläufiger Schutzmechanismus, jemanden den man mag aus Angst einer Zurückweisung lieber ganz zu vermeiden, oder gar selbst zurückzuweisen (indem sie ihn nur kameradschaftlich Bruder nennt und dann das Weite sucht).
Dabei hat Perakín sie überhaupt nicht abgewiesen. Dass er im ersten Moment über ihr Gesicht überrascht ist, und auch Mitleid empfindet, ist doch eigentlich eine natürliche Reaktion. Das muss aber noch lange nicht mit Abneigung oder Ekel gleichzusetzen sein, auch wenn sie das schon bei vielen anderen erleben musste. Aber da sollte sie doch Perakín, den sie ja so toll findet, auch erst mal eine Chance geben.
Aber auch wenn ich mich wie gesagt über Laurien ärgere, die sich in ihrem eigenen Konstrukt aus Befürchtungen verrennt, ist es nicht so, dass ich sie nicht verstehen könnte. Leider sind solche Schutzmechanismen, sich lieber direkt selbst zu verletzen als das Risiko einzugehen, von jemand anderem den man mag verletzt zu werden, sehr menschlich. (Vermutlich dann auch sehr elfisch.) Ich muss ja zugeben, dass ich auch selbst schon hin und wieder so in meinem Leben gehandelt habe. Es ist wohl immer einfacher, bei anderen Personen (fiktiv und real) solche Muster zu erkennen und sie belehren zu wollen, als selbst so zu handeln.
Neben der Liebesgeschichte fand ich aber auch das politische Geschehen sehr spannend. Es ist schon interessant, wie schnell Zweck-Bündnisse zu bröckeln anfangen, wenn der große, gemeinsame Feind bis weg ist.
Hallo Luc!
Hach, ja, Lauriens vorsorglicher Pessimismus ist in der Tat zum Ärgern. Und ich schreibe diese Geschichten ja auch, um mich selbst mit Fallbeispielen umzuerziehen. Klappt manchmal sogar in kleinen Dingen. Na ja. Aber die verdammte Angst, abgelehnt, enttäuscht und verletzt zu werden, ist natürlich eins der großen Themen im Leben junger Menschen, und manchmal leider noch weit darüber hinaus …
Die politische Situation hat mich natürlich auch sehr gereizt! Insbesondere, wie die großen Versprechungen einer Rebellion eingelöst werden (oder nicht), wenn es einen Machtwechsel gibt. Beim Erfolg, beim Aufteilen der Beute, zeigt sich, wer die Verbündeten wirklich sind, wenn kein gemeinsamer Feind sie mehr eint. Diese Umschlagmomente finde ich immer besonders spannend. Darum wird es auch in meinem nächsten Roman viel gehen, der im Herbst/Winter erscheint.
Ich stimme Carina zu: „Endlich wieder Sonntag.“ Aber das warten hat sich gelohnt, endlich erfahren wir, wie das erste Zusammentreffen nach über zwei Jahren zwischen Laurien und Perakín aussieht. Leider scheint es kein schönes Ereignis für Laurien zu werden, hat sie sich doch so danach verzerrt.
Allerdings schickst du sowohl ihr als auch uns Lesern einige Vorboten, die bereits darauf hindeuten, dass es nicht das ersehnte (womöglich romantische) Wiedersehen geben kann. Ich muss gestehen, dass ich diese beiden Kapitel explizit dahingehend gelesen habe. Und direkt zu Beginn lieferst du uns auch bereits eine erste – nennen wir es mal – Vorahnung: „Ein Teil von ihr fürchtete das Wiedersehen mit Perakín.“ Natürlich ist auch Laurien bewusst, dass dieses Wiedersehen kein gutes bzw. kein von ihr bestenfalls gewünschtes Ende nehmen wird, da sie schließlich um die Begebenheiten der letzten zwei Jahre weiß. Und so verwundert es auch nicht, dass „sie ihn [fast] nicht wiedererkannt [hätte].” Er hat sich rein äußerlich allen anderen Kriegern angepasst, ja, er ist nun kaum mehr als „Halbwüchsiger“ bezeichenbar. Er hat also augenscheinlich etwas von der „Leichtigkeit“ verloren, die Laurien (und viele andere) so an ihm bewundert haben – ja, weswegen sie sich womöglich sogar in ihn verliebt hat. Interessant ist hier, dass sie jede Bemerkung an ihm doch immer wieder mit dem Nachsatz versieht, dass es ihm stehe. Ich habe mich beim Lesen dann immer wieder gefragt, ob sie sich dies vielleicht nur einredet, um mit seiner offensichtlichen Veränderung klarzukommen, oder ob sie noch so liebestrunken ist, dass sie geradezu noch eine „rosa Brille“ aufhat. Oder: Die letzten zwei Jahre haben auch sie so weit verändert, dass sie nicht mehr zum „alten“ Perakín zurück könnte. Du siehst, in meinem Kopf spinnt sich jedes Mal aufs Neue ein Gedankengeflecht zusammen, dass mir mehrere Interpretationsmöglichkeiten bietet, die es näher zu eruieren gäbe. ;-)
Dennoch zeigt noch mehr an, dass kurzfristig zumindest nichts zwischen den beiden entstehen kann: Sie hat Angst, vor ihm zu singen, obschon er ihr Lied als „wunderschön“ bezeichnet, ohne zu wissen, dass es von ihr ist. Sie rennt vor ihm weg, aber er findet sie doch. Es macht immer wieder den Eindruck, als würde er gezielt ihre Nähe suchen, ohne es aber ausdrücklich zu zeigen. Am Ende sieht sie auch in seinem Gesicht dasselbe, was sie immer sieht: Mitlied. Und während er ihr „kameradschaftlich“ auf die Schulter klopfen will, nennt sie ihn schlichtweg unpersönlich „Bruder“ und geht.
Ich hatte letzte Woche schon erwähnt, dass ich eine böse Vorahnung in Bezug auf Perakín habe. Diese hat sich so weit noch nicht bewahrheitet, aber auch nicht ganz zerstreut. Schön finde ich, dass er nach wie vor gegen den Krieg wettert bzw. dessen Sinnlosigkeit so nicht akzeptieren will. Allerdings spricht dabei für mich schon sehr viel Bitterkeit aus ihm, die ihm so nicht steht und die mir nur wieder zeigt, wie viel der Krieg bisher in ihm kaputt gemacht zu haben scheint.
Im Kontrast dazu, möchte ich einen mal wieder bildschönen Satz hier kurz noch kundtun: „Ich will lieber vertrauen und sterben als zu misstrauen und damit aufrechtzuerhalten, was ich besiegen will.“
Lieber Kevin,
du liest wie immer mit Argusaugen! :) Es ist tatsächlich nicht so leicht, herauszufinden, was Laurien eigentlich von Perakín will, und was er von ihr will. Wann weiß man schon, was man von jemandem will? Es ist doch immer ein diffuses Durcheinander Sehnen und Fürchten.
Und dieser letzte Satz ist eine dieser Sachen, die ich mir beim Schreiben selbst sagen will. In der Hoffnung, dass es ankommt … Aber es ist verdammt schwer, wirklich Vertrauen zu haben. Es fühlt sich ja schon in kleinen Dingen oft so an, als würde man sein Leben riskieren. Letztlich geht es in dem Buch die ganze Zeit darum, ob, und wenn ja, wie man vertrauen soll. Insbesondere, wenn die Menschen, mit denen man es zu tun hat, genauso diffuse Gefühle haben wie man selbst.
„Endlich wieder Sonntag“ trifft es genau, liebe Jenny. Unglaublich wie lang 7 Tage sein können, wenn man gerne weiterlesen möchte! Ich merke schon, dass ich bei der Liebesgeschichte arg mitleiden werde.^^ Und ich hoffe, dass Perakín sich nicht in die Königstochter verlieben wird. Am meisten liebe ich jedoch die Welt, diese hier erschaffen hast, und die Magie dieser Welt und ich freue mich besonders, mehr Orte kennenzulernen und mehr von dem Bestien zu sehen. (Ob Kanemô wohl Drachen aus dem Kessel zaubern wird, bevor er zerstört wird?)
Bis nächste Woche!
Carina
Liebe Carina,
es freut mich sehr, dass dir die Geschichte Spaß macht! Und ich kann natürlich zu den weiteren Verwicklungen mit Kanemô nichts sagen, aber … Ah, nein, alles wäre schon zu viel. ^^ Nur eins kann ich vielleicht verraten: Einen Drachen wird es geben. :D
Juhuuu, dann bin ich glücklich und zufrieden =D