17. Oktober 2021

Das Zeitalter der Drachen

Kapitel 6 – 7

Guten Abend, liebe Vorab-Leser! Der letzte Abschnitt hörte mit einem fiesen Cliff-Hanger auf, aber jetzt geht es umgehend weiter, und Nireka steht eine recht unerwartete Begegnung bevor. Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich mich sehr, sehr auf das Erscheinen einer weiteren Hauptfigur freue? Ich hoffe, ihr werdet sie mögen! So sehr, wie man sie eben mögen kann … Hehehe. Viel Spaß beim Schmökern!

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Kapitel 6

Schlohweiß war der Turm. Das Wasser spülte durch die unteren Fenster, und Seetang hing aus ihnen hervor wie zerfetzte Vorhänge.

Ein plötzlicher Aufprall ließ Nireka zusammenfahren. Das Boot schrammte über etwas hinweg. Einen Dachgiebel, der eine Armlänge unter Wasser lag. Durch das schaumige, vom Regen zerschossene Wasser konnte sie es nicht genau erkennen, aber es schien, als wären weitere weiße Gebäude im Meer versunken. Hier und da tauchten die Zinnen einer Burgmauer zwischen den Wellen auf wie Zähne.

Wie und warum eine Burg mitten im Meer errichtet worden war, gab Nireka Rätsel auf. Aber es war keine Seltenheit, auf Ruinen der alten Welt zu stoßen, die von den Drachen vernichtet worden war. Soweit sie wusste, baute heute niemand mehr solche Wehrmauern, denn sie schützten zwar vor Armeen, nicht aber vor Drachen.

Eine Welle stürzte von oben auf das Boot, und ein hässliches Kreischen erklang, als der Dachgiebel sich durch den Bauch des Gefährts bohrte. Ein unnatürlicher Druck schien nun auf das Boot einzuwirken. Die nächste Welle riss die Bretter auseinander, mit der dritten Welle war das Boot in zwei Teile zerbrochen. Doch es sank nicht, sondern trieb merkwürdig auf den Fluten.

Nireka fiel abermals ins Wasser. Nein, nicht ins Wasser, sondern auf das Wasser.

Der Schock war schlimmer als der Schmerz. Unter ihr bewegte sich das Meer, die Wellen warfen sie vorwärts und zurück, aber sie weigerten sich, Nireka einsinken zu lassen. Sie prallte hart mit der Schulter auf, und Wasser spritzte ihr ins Gesicht, doch sie tauchte nicht einen Fingerbreit unter.

Was ging hier vor?

Das Seil war noch immer um ihr Handgelenk geknotet und verband sie mit einem Trümmerstück, das ebenso seltsam auf den Fluten herumschlitterte wie sie. Die anderen Teile des Bootes waren zwischen den Wellen verschwunden. Den Turm allerdings konnte sie noch sehen. Wenn sie es bis dorthin schaffte, könnte sie versuchen, an der Außenwand hinaufzuklettern bis zum nächsten Fenster. Die Fensteröffnung befand sich mal fünf, mal einen Meter über dem Meer, je nachdem, wie hoch die Welle gerade war, die sich gegen den Turm warf.

Der Grund unter Nireka wölbte sich und riss sie von den Füßen. Sie rutschte einen spiegelglatten Wellenhang hinab und auf dem Rücken einer anderen Welle wieder hoch. Womit auch immer sie es zu tun hatte, es war nicht so schlimm, wie zu ertrinken.

Verbissen begann sie ihren Weg zum Turm. Sie schlitterte, krabbelte und fiel bäuchlings vorwärts und manchmal auch wieder ein Stück zurück. Sie prellte sich die Ellbogen und Knie und einmal auch den Kopf an dem Wasser, das so unnachgiebig wie Glas geworden war. Eine Welle kam von hinten. Nireka rannte vor ihr weg und rutschte auf dem Hosenboden in ein Tal zwischen den Fluten, um nicht zerschmettert zu werden. Sie verfluchte das Holzstück, das immer noch mit dem Seil an ihr hing und sie von allen Seiten schlug, aber sie hatte keine Gelegenheit, das Seil von ihrem Gelenk zu lösen.

Nach und nach näherte sie sich dem Turm. Nun bekam sie die Fontänen ab, die an seinen Mauern aufspritzten, und selbst diese Tropfen kamen ihr härter vor als normales Wasser. Dann sank die glasartige Fläche unter ihr. Das konnte nur eines bedeuten. Nireka sah sich um. Eine riesige Welle wuchs hinter den Regenschleiern an, und auf ihrem Kamm bildete sich der erste Schaum. Wenn diese Welle sie erfasste, würde sie ihr alle Knochen brechen.

Nireka stand auf. Ihre Schuhe hatte sie längst verloren. Barfuß begann sie über den schwankenden Grund zu laufen. Hinter ihr rauschte die Welle heran. Nireka holte das Holzstück ein – mittlerweile nur noch ein einziges gebogenes Brett von ungefähr eineinhalb Metern Länge. Sie packte es und warf es wie einen Speer durch die Fensternische in den Turm. Die Welle brach hinter ihr, rollte heran und zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Das Seil an ihrem Gelenk spannte sich.

Den Ahnen sei Dank! Das Holzbrett hatte sich im Fenster verkeilt. Mit beiden Händen hielt sie sich an dem Seil fest und begann sich daran hochzuziehen, bis sie beide Füße gegen die Mauer des Turms stemmen konnte. Sie klammerte sich mit aller Kraft an das Seil, griff mit einer Hand über die andere, und Stück für Stück zog sie sich daran empor. Die Mauer des Turms war glatt wie polierter Kristall, und jetzt sah sie, dass es Salzstein war. Wie konnte das sein, mitten im Meer? Mit brennenden Handflächen erreichte sie die Fensteröffnung. Sie hievte sich hinauf und hindurch und plumpste mit dem Trümmerstück und dem Seil auf eine Wendeltreppe, die wenige Stufen tiefer unter Wasser stand, doch weiter oben trocken war.

Nireka schluchzte. Sie hatte es geschafft. Erst jetzt begriff sie, dass sie nicht wirklich daran geglaubt hatte. Wie hätte sie auch damit rechnen können, auf einen Turm mitten im Meer zu stoßen? Aber genau so war es. Ihr Leben war gerettet.

Jetzt konnte der Drache ihre Fährte aufnehmen und Ydras Horn verschonen.

Sie musste vor Entkräftung das Bewusstsein verloren haben. Jedenfalls kam sie zu sich und hatte das Gefühl, sehr lange fort gewesen zu sein. Ihre Kleider und Haare waren allerdings noch nass. Vermutlich war sie nur einen Augenblick weggetreten.

Sie kroch ein Stück höher, wo sich der Regen, der schräg durch das Fenster fiel, in einer Vertiefung der Stufe sammelte. Gierig trank sie, denn sie hatte so viel Salzwasser geschluckt, dass sie sich wie ausgedörrt fühlte. Dann untersuchte sie ihren Körper, der voller Schnitte und Prellungen war, aber nicht ernsthaft verletzt. An ihren Armen und ihren Rippen hatten sich bereits dunkelblaue Blutergüsse gebildet, wo sie gegen das widerständige Wasser geschleudert worden war, aber wie durch ein Wunder hatte sie sich nichts gebrochen.

Als sie Schatten bemerkte, die wie Aale über ihre Haut glitten, ließ sie das Hemd wieder herunter, stand auf und folgte wankend der Treppe nach oben. Ob das gläserne Wasser etwas mit ihrem Fluch zu tun hatte? Andererseits schien das Bauwerk aus reinem Salz zu bestehen, was möglicherweise mit der magischen Beschaffenheit des Wassers zusammenhing.

Nireka trat in einen Raum, der einmal ein schmuckes Kaminzimmer gewesen sein musste. Die Überreste eines Balkons ragten hinaus über das gläserne Meer in der Tiefe. Elegante Sitzmöbel lagen über den Boden verstreut, der Samtbezug einer Liege war aufgeplatzt, und die Strohfüllung hatte augenscheinlich Möwen als Nest gedient. In einer Nische neben dem Kamin stand ein riesiger Schreibtisch aus gemeißeltem Salzstein. Dahinter hing ein Teppich, vom Wind in Fetzen gerissen, doch sonst war jede freie Fläche von Schrift bedeckt. Nireka trat wankend näher. Jemand schien die Wände von oben bis unten beschrieben zu haben …

Gerade als sie zu lesen beginnen wollte, registrierte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Sie fuhr herum und blickte auf den Balkonstumpf hinaus. Nichts. Sie machte einen vorsichtigen Schritt nach draußen. Unter ihr schäumten die gläsernen Wellen und schienen sich nach ihr zu recken, erbost, dass sie entkommen war. Sonst bewegte sich nichts.

Den Sturm überlebt zu haben, noch dazu auf eine so unwahrscheinliche Weise, flößte Nireka einen merkwürdigen Mut ein. Dann würde es also wirklich der Drache sein, der ihrem Leben ein Ende setzte. Ihre Leiche im Meer hätte er wahrscheinlich nicht wittern können. Es war denkbar, dass er dann aus reinem Ärger über die Felder von Ydras Horn hergefallen wäre. Ja, es war gut, dass sie nicht auf diese Weise gestorben war. Sie betete nur, dass der Drache sie … dass er sie schnell verbrannte und nicht …

Ein Zittern erfasste ihre Hände. Ihr war schrecklich kalt. Und ihr wurde bewusst, dass sie noch nie so allein gewesen war wie jetzt. Tatsächlich kannte sie keine Einsamkeit. Wenn man mit zweitausend Leuten in einer Festung lebte, war man selten für sich.

Sie wandte sich den beschriebenen Wänden zu. Sie erkannte die schwungvolle, etwas schiefe Schrift, noch bevor sie den Namen entdeckte. Aylen stand unter einem langen Text, der von der Decke bis zum Boden reichte. Ganz oben stand: Vom Wesen der Zauberkunst.

Nireka las den Namen mehrmals, ohne es recht glauben zu können. Ein Lachen kitzelte sie in der Kehle. Konnte es Zufall sein? Sie war auf die verfallene Burg eines Zauberers gestoßen, dessen Einladung sie immer noch auf den Arm geschrieben trug. Vielleicht hatte die Einladung sie auch geleitet. Das war möglich. Sie betrachtete die kleinen schwarzen Zeilen auf ihrem Handrücken.

Dann hat Rivans Geschenk mich gerettet.

Aber letztlich spielte es keine Rolle, ob ein absurder Zufall sie hierher verschlagen hatte oder ein Zauber, der mehrere Jahrhunderte zu spät wirkte. Das Ultimatum des Drachen würde heute Abend ablaufen. Vielleicht war er jetzt schon auf dem Weg hierher. Jeden Moment konnte er auftauchen. Und dann würde die Schrift an den Wänden mit ihr in Ruß und Asche verschwinden.

Es sei denn, der Turm widerstand Drachenfeuer, so wie er dem Meer widerstand. Jetzt kicherte sie doch. Aber ihr schossen dabei Tränen in die Augen, denn Hoffnung zu hegen, war schmerzhafter, als sich mit dem Schicksal abzufinden.

Sie riss sich zusammen, zog die Nase hoch und wischte sich über das Gesicht. Dann begann sie die Texte an den Wänden zu lesen, einfach, weil sie nichts Besseres zu tun hatte.

Unsere prachtvolle Welt Tana, der Ort der Ordnung, Sphäre von Tag und Nacht, ist Schauplatz zugleich des Krieges und der Liebe von Götterlicht und Geisterschatten, den großen Urmächten, aus deren Trennung und Vermengung alles gemacht ist, in dieser Sphäre wie in jeder anderen …

Nireka musste sich wieder die Tränen aus den Augen wischen. Die Nutzlosigkeit dieses Wissens, auf das sie in jeder anderen Situation gebrannt hätte, brach ihr das Herz. Selbst wenn hier offenbart wurde, wie Zauberei funktionierte – es würde ihr nicht mehr helfen. Vermutlich hätte sie nicht einmal genug Zeit, um auch nur einen Bruchteil zu lesen. Und selbst wenn es das Beste war, was sie mit ihrer verbleibenden Lebenszeit anstellen konnte, fehlte ihr die Ruhe. Sie schluckte gegen das Kichern in ihrem Hals an, das sie noch nie an sich gehört hatte und auch nicht hören wollte. Sie fürchtete, es könnte auch ein Schluchzen sein.

Da – eine Bewegung. Sie fuhr zusammen. Was sich bewegt hatte, verharrte nun wieder reglos, aber sie hatte sich nicht geirrt, bestimmt nicht. Der Besen, der vorhin in der Ecke gelehnt hatte, stand nun aufrecht im Raum, wie von Geisterhand gehalten.

Nireka wich zurück, bis sie mit dem Rücken die Wand berührte. Es musste ein verzauberter Gegenstand sein. Wahrscheinlich war er zu dem Zweck erschaffen worden, den Raum sauber zu halten. Aber dass er sich an sie herangeschlichen hatte und jetzt reglos stellte, verursachte ihr eine Gänsehaut. Langsam bewegte sie sich zur Tür.

Der Besen entfernte sich seinerseits ebenfalls von ihr. Wie unbeteiligt kehrte er ein wenig Staub zusammen, so als wollte er ihr zeigen, dass er sie nicht beachtete. Sie blieb im Türrahmen stehen. Der Besen fegte bedachtsam den Raum und näherte sich ihr auf eine Weise, die vorsichtig, beinah beschämt wirkte.

„Du hältst schon lange einsam den Posten, was?“, murmelte Nireka.

Der Besen reckte seinen Stiel nach ihr. Als wäre er ein Tier. Besonders an ihrer Hand schien er wittern zu wollen. Und da verstand Nireka: Es war die Zauberbotschaft, die ihn interessierte. Oder die etwas in dem leblosen Zauberding auslöste.

„Du kennst den hier wohl“, sagte Nireka und hielt dem Besen ihren Handrücken hin, wobei sie sich ziemlich albern vorkam. Es war eine Sache, mit einem Haustier oder einer Pflanze zu reden, aber eine ganz andere, einem Besen einen Text vorzuhalten. Sie konnte es sich trotzdem nicht verkneifen, und sei es auch nur, weil es guttat zu sprechen, als wäre jemand da. „Das war wohl dein Herr, dieser Aylen.“

Der Besen schoss in die Höhe, das Reisig weit gespreizt, und begann gegen die Decke zu klopfen.

Nireka, die in Deckung gegangen war, sah erschrocken zu, wie er durch den ganzen Raum wanderte und trommelte, als versuchte er davonzuschießen und würde an der Decke scheitern.

Da fiel Nireka etwas auf. Die Decke leuchtete.

Nireka hatte geglaubt, bereits am höchsten Punkt des Turms zu sein, aber nun erinnerte sie sich, von außen ein spitzes Dach gesehen zu haben. Und was auch immer dort oben war, es verströmte Licht. War das Drachenfeuer? Der Goldene hätte doch nicht landen können, ohne dass der Turm eingestürzt wäre, und erst recht nicht, ohne ein Geräusch zu verursachen. Dennoch war sie einen Moment lang wie gelähmt von der Vorstellung. Erst als sie sich überzeugt hatte, dass es unmöglich war, begann sie die Wände nach Geheimtüren abzutasten und schaute auch hinter die Teppichfetzen. Der Besen hatte sich inzwischen ein wenig beruhigt, flog aber immer noch in wilden Achten unter der Decke entlang.

Nireka hielt inne. Es gab auch keine Treppe nach oben. Es sei denn … Sie kniete sich vor den Kamin. Er war so groß, dass sie bequem darin Platz gefunden hätte. Sie streckte eine Hand aus. Sie musste zwei Schritte tiefer hineinkriechen, bis sie die Rückwand ertasten konnte. Und eine Querstange.

Darüber war noch eine solche Stange. Sie kroch näher und blickte empor. Dort oben waberte das Licht und fiel auf weitere Leitersprossen in dem Kaminschacht. Nireka folgte ihnen aufwärts und drehte dann den Kopf, um sich auf dem Dachboden umzusehen.

Das Licht kam von einem riesigen Ei. Es sah aus wie aus rauchig schwarzem Kristall gemeißelt.

Mit weichen Knien kletterte Nireka in den Raum. Ihre Füße wirbelten Staubwolken auf, die Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, ungestört geblieben sein mussten. Nur das Ei war glatt und rein, als wäre es nicht wirklich hier, auf diesem staubigen Dachboden, sondern in einem Reich unantastbarer Ewigkeit. Nireka bestaunte die grünen und silbernen Adern, die nicht nur an der Oberfläche zu sein schienen, sondern tief im Inneren. Und noch mehr war dort zu sehen. Als sie es erkannte, taumelte sie zurück.

Eine Frau.

Sie hatte die Beine leicht angezogen und die Arme ausgebreitet wie eine Tänzerin im Sprung. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Miene wirkte ernst und konzentriert, aber friedvoll. Und sie war nackt. Ihre Haut schimmerte silbrig wie die von Grauen Elfen, aber ihre Züge wirkten eher menschlich.

Als Nireka endlich die Fassung wiedergefunden hatte, umrundete sie das Ei. Die Frau war nur aus bestimmten Winkeln gut erkennbar, wo die grünlichen und schwarzen Wolken im Kristall sie nicht verdeckten. Atmete sie? Sie schwebte in dem Ei so leblos wie ein Insekt in Bernstein. Dennoch wirkte sie nicht tot. Ihre dichten, dunklen Haare, Augenbrauen und Wimpern glänzten ohne ein Anzeichen von Verfall. Als stünde einfach die Zeit für sie still.

Im Raum unter ihnen erscholl ein Klappern, und Nireka schrak zusammen. Der Besen schien durch den Kamin kommen zu wollen, schaffte es aber nicht um die Ecke. Darum also war er so aufgeregt gewesen. Wegen …

„Aylen“, murmelte Nireka.

Ein Knacken erklang. Der Kristall schien sich bewegt zu haben. Oder etwas in ihm. Sein Licht flackerte und wurde schwächer. Es dauerte einen Moment, ehe Nireka bemerkte, warum: Eine der schwarzen Rauchwolken in dem Kristall war größer geworden und dämpfte den Schimmer. Hatte sich auch die Frau bewegt? Vielleicht bildete Nireka es sich nur ein, doch sie schien ganz leicht das Kinn gehoben zu haben.

„Aylen“, wiederholte Nireka, um zu testen, ob es etwas bewirkte.

Ein dumpfes Knacken ertönte. Die schwarzen und grünen Wolken in dem Kristall schienen sich zu Schlieren zu verflüssigen, ganz langsam, und als Nireka das Ei abermals umrundete, entdeckte sie Ausbeulungen, die vorher nicht da gewesen waren: eine oben und zwei unten.

„Was zum …“, stammelte Nireka.

So langsam, dass man es kaum wahrnehmen konnte, bewegte sich die Frau im Gestein. Sie reckte sich. Das Knirschen und Knacken setzte sich durch den Stein fort, und Nireka sah, dass winzige Stellen an der Oberfläche aufsprangen, als würde diese anfangen zu schuppen.

Nireka sank zu Boden, weil ihre Knie so zitterten. Reglos saß sie da und sah zu, wie sich das Kristallei verformte. Es geschah so langsam, wie ein Eisbrocken in der Sonne schmolz, nur dass der Kristall nicht weniger wurde, sondern im Gegenteil zu wachsen schien. Die Frau darin änderte ihre Haltung nicht schneller als eine Blume, die sich dem Sonnenlicht zuneigte. Wer war sie?

Da begriff Nireka. Sie war selbstverständlich davon ausgegangen, dass Aylen ein Mann gewesen war. In keinem Geschichtsbuch oder sonstigen Schriftstück der alten Welt war je eine Zauberin erwähnt worden. Aber anscheinen war Aylen eine Hexe gewesen. Und aus irgendeinem Grund hatte sie sich in einen Kristall gebannt. Vielleicht aus Versehen? Es gab zahllose Legenden über ungebildete und unbedachte Hexen, die schreckliche Zauber wirkten, oft zu ihrem eigenen Schaden.

Nireka beobachtete den Kristall, doch bald schien er sich nicht mehr zu verändern. Sie wartete, bis ihr Durst übermächtig wurde. Schließlich kletterte sie wieder nach unten, wo der Besen aufgeregt um sie herumzuhüpfen begann. Auf dem zerbrochenen Balkon hatten sich Pfützen mit Regenwasser gebildet. Nireka trank sie langsam und nachdenklich aus.

Nur noch Nieselregen fiel, und Dunst trieb über dem Meer, so weit das Auge reichte. Blass schimmerte im Westen ein orangefarbener Streifen Helligkeit. Die Sonne musste gerade untergegangen sein. Nireka dachte an ihren Vater, an Patinka, ihre Nichte und ihren Neffen, ihre Nachbarn und die Kinder von Ydras Horn, denen sie das Lesen und Schreiben beibrachte. Auch an Kedina und Kani. Sie stellte sich vor, wie sie alle zu Hause waren, in Sicherheit. Hoffentlich hatten sie aufgehört, das Saatgut wieder einzuholen, sobald sie gehört hatten, dass sie sich davongestohlen hatte. Sie dachte an Tokrim, dem wahrscheinlich ein Stein vom Herzen fiel, und in diesem Moment mochte sie sogar ihn. Und sie dachte an Riwan und stellte sich vor, wie der Ruinengänger in einigen Monden wiederkommen und erfahren würde, dass es sie nicht mehr gab.

Eine Weile betrachtete sie den Himmel. Wartete auf den Drachen. Als er nicht auftauchte, setzte sie sich so, dass sie den Himmel gut im Blick hatte und die Schrift an den Wänden im Zwielicht lesen konnte.

Zum Teil wurde Tana beschrieben, die Welt von Tag und Nacht, die zwischen den ewigen Sphären von Götterlicht und Geisterschatten lag. Drei Zauberberge gab es in Tana, auf deren Gipfeln die alten Gegensätze geballt aufeinandertrafen. Darum eigneten die Zauberberge sich als Gefängnis für Drachen, die von Erzmagiern der drei Völker bewacht wurden. All das wusste Nireka aus Büchern. Doch neu war für sie, dass die Erzmagier angeblich logen … dass sie nicht Drachen in den Zauberbergen bannten, sondern unsterbliche Frauen, deren Tränen den Zauberern erst ihre Macht verliehen.

Nireka blickte zur Decke auf, durch die das Licht des Kristalleis schimmerte. Vielleicht war es keine böse Verleumdung der Zauberer, und Aylen hatte das wirklich geglaubt. Aber der Ausbruch der Drachen und ihr Auftauchen überall im Land hatte gezeigt, dass sie falsch lag. Leider.

Inzwischen war das letzte Tageslicht erloschen, und draußen war die Finsternis so vollkommen, dass sie ebenso gut flach wie ein Tuch oder endlos tief hätte sein können. Nireka wartete darauf, Feuer im Dunkel aufleuchten zu sehen. Wo blieb der Drache?

Sie starrte in die Nacht, bis ihr die Augen zufielen.

Ein Klappern weckte Nireka. Sie fuhr auf, Panik wie eine Faust um ihr Herz geschlossen, doch am Himmel war immer noch kein Drachenfeuer, nur ein sehr blasser Streifen Helligkeit im Osten. Der Lärm kam von dem Zauberbesen, der schon wieder sinnlos versuchte, durch den Kamin nach oben zu gelangen.

Nireka pfiff leise, wie man einen Hund anlocken würde. „Besen. He, Besen!“

Tatsächlich schien der verzauberte Gegenstand aus dem Kamin zu lugen und streifte dann zögerlich zu Nireka. „Du scheinst Aylen ja ganz schön zu vermissen. Und schon ziemlich lange.“

Nireka überschlug im Kopf, wie lange. Man ging davon aus, dass die Drachen vor rund dreihundertsechzig Jahren ausgebrochen waren und die Zauberer ausgerottet hatten. Das bedeutete, Aylen war mindestens so lange schon in dem Kristall, vielleicht aber noch viel länger.

„Armer Bursche“, murmelte Nireka dem Besen zu. Einem Impuls folgend, streckte sie die Hand aus und streichelte den Stiel und das Reisig. Der Besen erzitterte, dass das Reisig raschelte. Dabei fiel Nireka auf, dass es gar nicht festgebunden war, sondern aus dem Ende des Stockes wuchs wie blattlose Zweige aus einem Winterbaum.

Der Besen flog unter ihrer Hand hindurch, dann an einer Wand mit Vorsprüngen entlang, auf denen Krüge und Töpfe unter einer Schicht Staub standen. Er klopfte gegen einen davon.

„Was willst du mir zeigen?“ Nireka stand auf. In dem Lichtschimmer, der durch die Decke fiel, durchquerte sie den Raum und nahm das Tongefäß herunter. Nicht nur Staub, sondern auch weiße Federn und Salz bedeckten den großen Korken. Sie streifte alles ab, so gut sie konnte, und hustete. Als es ihr endlich gelang, das Gefäß unter Aufgebot ihrer ganzen Kräfte zu öffnen, zerbröselte der Korkdeckel wie ein Keks.

Ein muffig-süßlicher Geruch stieg ihr in die Nase. Sie schüttelte das Gefäß, fasste hinein und zog einen bräunlichen Stein hervor, an dem kleinere Steine klebten. Konnte das sein? Sie schnupperte und leckte vorsichtig daran. Es war Zucker! Der älteste Zucker, den sie je gesehen hatte, aber nichtsdestotrotz essbar. Sie lutschte den süßen Stein, der entfernt nach Zimtrüben schmeckte und auch nach altem Beerenschnaps.

„Danke, Besen“, sagte sie.

Der Besen strich wieder mit dem Reisig über den Boden, von einer Seite zur anderen. Dass er leblos war und dennoch eigentümlich beseelt, bereitete Nireka wie bei so vielen Zauberdingen Unbehagen. Konnte er Einsamkeit empfinden, wenn er so sehr versuchte, zu seiner Herrin zu gelangen? Hatte er ein Gefühl für Zeit, die über ihn hinwegströmte, ohne ihn je zu verwandeln und auszulöschen?

Nireka kam sich von dem Besen merkwürdig beobachtet vor, wie sie so den Zuckerklumpen aß. Sie beschloss, nach Aylen zu schauen. Schon als sie durch den Kamin nach oben kletterte, fiel ihr auf, dass das Licht schwächer war. Als sie den Kopf aus der Luke streckte, hielt sie erschrocken inne.

Der Kristall war gewachsen. So sehr, dass es kaum noch Platz zwischen ihm und dem Dach gab. Sein Umriss war auch nicht mehr eiförmig, sondern merkwürdig unregelmäßig.

„Was in aller Ahnen Namen geht hier vor?“, murmelte Nireka und zerbiss das letzte Klümpchen Zucker. „Was hast du dir bloß angetan, Aylen?“

Fast augenblicklich knackte und schnalzte der Kristall. Eine Lichtader zitterte durch das dunkle Gewölk im Stein, dann nochmal und nochmal, und das letzte bisschen Licht erlosch. Finsternis schlug über Nireka zusammen. Sie duckte sich in den Schacht hinab – gerade rechtzeitig. Über ihr krachte der Kristall gegen die Mauern. Die schrammenden, schabenden Geräusche hörten nicht auf. Ein dumpfes Klopfen kam dazu, als würden Felsbrocken fallen. Der Turm erzitterte.

Ein Feuerstrahl leuchtete auf, entzog dem Speicher alle Luft und ließ einen Windstoß durch den Schacht rauschen. Das Dach barst. Fast wäre Nireka von den Leitersprossen gefallen, denn die Wände wackelten, und Risse zogen sich durch den Salzstein. Bleiches Morgenlicht fiel auf sie herab. Dann wurde es dunkel, denn eine Tatze verdeckte den Schacht.

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Kapitel 7

Nireka hatte sich nicht geirrt. Sie hatte Klauen gesehen, hatte sie über den Stein schrammen hören. Dennoch glaubte sie es nicht. Die Tatze verschwand, und ein Quadrat Himmel erschien über Nireka. Nur für einen Moment. Dann schwenkte etwas Dunkles, Glänzendes über sie hinweg. Etwas Geschupptes.

Ein kolossales Brüllen, das in einer Feuersbrunst endete, ließ die Luft erzittern. Nireka spürte die Hitze der Flammen, ohne sie zu sehen. Das Dach bröckelte weiter, während sich das Monstrum hin und her bewegte.

„Besen!“, grollte eine Stimme, bei der sich Nireka der Magen umdrehte. Spätestens jetzt bestand kein Zweifel mehr, dass auf der zerstörten Turmspitze ein Drache herumtapste. Nur die Stimme eines Drachen dröhnte, als käme sie aus den eigenen Knochen, dem eigenen angstvollen Herzen. „Beruhige dich! Wo ist Totema?“

War das, was darauf folgte, etwa ein Lachen? Nireka wusste nicht, was die Laute sonst bedeuten mochten. Sie polterten wie eine Steinlawine aus der Drachenkehle.

„Totema?“ Licht fiel auf Nireka herab, als der Drache seinen Schwanz schwenkte.

So leise wie möglich kletterte sie abwärts. Doch es war zu spät. Ein Schatten fiel über sie. Das Auge des Drachen blickte auf sie herab.

Feuer gloste in seiner Kehle, als er atmete. Nireka erstarrte. Sein Auge war türkisblau und menschlich – so menschlich, dass sie fast glaubte, darin ein Erschrecken zu erkennen.

„Wer bist du?“, fragte der Drache.

Sie öffnete den Mund. Aber sie brachte nichts hervor.

„Verstehst du mich?“ Der Drache wich zurück, um sie im herabfallenden Tageslicht besser zu betrachten. „Was machst du hier?“

„Nireka ist mein Name. Und wie heißt du?“ Noch immer klammerte sie sich an die Leitersprossen. So fest, dass ihre Knöchel hervortraten. Bisher hatte sie nie darüber nachgedacht, ob Drachen einen eigenen Namen besaßen, einen, der ihnen nicht von ihren Opfern verliehen worden war. Die Rückfrage war ihr reflexhaft herausgerutscht.

Der Drache beäugte Nireka. „Was machst du hier?“, wiederholte er mit einem Nachdruck, den Nireka in jeder Zelle ihres Körpers spürte.

„Ich bin in einen Sturm geraten … und dann … war es wie ein Wunder, dass ich hier …“

Der Drache schwenkte den Kopf, sodass er aus ihrem Blickfeld verschwand.

„Totema!“, rief er so laut, dass der Turm bebte. Dann entfaltete er seine schwarzen Schwingen und sprang.

Nireka schützte sich mit einem Arm vor dem Schutt, der herabregnete. Dann kletterte sie hoch und blickte der Bestie nach.

Es war der kleinste Drache, den sie je gesehen hatte – etwa so massig wie vier Pferde. Sein schwarzes Schuppenkleid schillerte silbrig in der Sonne, und die Musterungen an Stirn, Rücken und Bauch gingen in dasselbe Türkis wie seine Augen.

Er trudelte mit flatternden Flügeln durch die Luft. Ein kolossales Platschen erscholl, und Wasser spritzte etwa fünfzig Meter entfernt auf. Der Drache war ins Meer gestürzt. Ein Feuerball explodierte. Mit einem Geräusch, das wohl als nichts anderes als ein Schrei bezeichnet werden konnte, kam der Drache wieder an die Oberfläche. Strampelnd und Feuer spuckend kraxelte er auf die gläsernen Wellen, auf denen schon Nireka herumgetaumelt war, und machte einen Buckel wie eine nass gewordene Katze. Wieder spie er Feuer in die Luft, so als wollte er seinem Unmut Ausdruck verleihen. Doch dann tat er etwas, was Nireka nie erwartet hätte. Er legte die Flügel an, reckte sich – und tauchte kopfüber wieder in die Wellen, die keinen Widerstand leisteten.

Unter Wasser sah sie Feuerstreifen an seinem schmalen, wie für das Element geschaffenen Leib entlangwehen. Er tauchte um die versunkene Burg herum, sodass Nireka noch mehr halb zerfallene Gebäude, Mauern und sogar einen kleinen Hof unter Wasser erkennen konnte, die für Sekunden im Feuer aufschimmerten. Schließlich tauchte der Drache wieder auf, schnaubte und hustete und ließ sich auf dem Rücken treiben. Nireka schüttelte fassungslos den Kopf. Dass sie nach allem, was an diesem Tag geschehen war, immer noch in der Lage sein würde, zu staunen!

Nach einer Weile kletterte der Drache wieder auf das sagenhaft feste Wasser und trocknete sich, indem er Flammen an seinem Körper entlangpustete. Dann streckte er sich und flatterte mit den Flügeln, wie um zu prüfen, auf welche Weisen er sich bewegen konnte. Einmal war Nireka sicher, dass er einen Blick zu ihr hochwarf, und duckte sich. Er spreizte die Flügel und sprang in die Luft. Obwohl er wie wild flatterte, kam er nur ein paar Meter hoch. Unsanft landete er auf den festen Wellen, schlitterte knurrend auf und ab und stolperte über seine eigenen Klauen. Fast hätte Nireka gelacht, so komisch sah es aus. Dann hatte er den Turm erreicht und kletterte daran herauf wie an einem Baumstamm. Ein bedenkliches Knacken lief durch das Gebäude. Der Drache kletterte mutwillig den Turm weiter empor. Er schien zufrieden damit, wie seine Klauen sich in den Salzstein gruben und wie sein Schwanz, um das Gleichgewicht zu halten, hin und her schwang. Immer wieder hielt er inne, um sich selbst zu begutachten.

Nireka beschloss, dass es Zeit war, zu verschwinden. Sie kletterte die Leitersprossen hinab, krabbelte aus dem Kamin und wollte gerade durch das Turmzimmer laufen, um sich unten auf der Treppe zu verstecken, als der Drache seinen Kopf durch die klaffende Balkonöffnung schob.

Glut leuchtete in seiner Schnauze auf. Im warmen Schimmer sahen sie einander an. Seine Augen waren so menschlich, dass Nireka eine Gänsehaut bekam. Sie konnte nicht anders, als sich diese Augen im Gesicht der Frau vorzustellen, die sie im Ei erblickt hatte. Aylen. Gab es eine andere Erklärung für das, was sie beobachtet hatte, als dass der Drache aus dem Kristall, aus der Frau entstanden war?

Der Drache wandte den Blick von ihr ab, um sich im Raum umzusehen. Die verstaubten Regale, die zerfallenen Möbel mussten auch ihm Aufschluss darüber geben, dass viel Zeit vergangen war. Schließlich fixierte er wieder Nireka. Nichts Bedrohliches war in seinem Blick. Aber auch sonst keine Regung, die sie deuten konnte. Sie schluckte so laut, dass er es hören musste.

„Ich habe dich gesehen“, sagte sie in der Hoffnung, dass sie ihn irgendwie in ein Gespräch verwickeln und davon abhalten konnte, sie zu fressen. „Bevor du geschlüpft bist. Im Ei. Du warst ein … eine Frau?“

Er schob sich mit dem halben Körper in den Raum und streckte die Klaue nach ihr aus. Gerade weil es so langsam geschah, fühlte Nireka sich wie gelähmt vor Schreck. Erst als er sie fast erreicht hatte, stolperte sie zurück und stieß gegen die Wand. Sie spürte Schweiß über ihrer Lippe brennen. Der Drache hielt inne, betrachtete sie prüfend; dann berührte er mit seiner Klaue ihren Arm und hob ihn höher. Er begutachtete den magischen Schriftzug auf ihrer Haut. Als der Drache ihr anschließend einen Blick zuwarf, glaubte sie ein Fünkchen Schalk in seinen Augen zu erkennen.

Wieder erbebte der Turm.

Der Drache schrie auf, warf den Kopf herum und verschwand in einem Regen aus Schutt. Nireka lief zur Balkonöffnung, um zu sehen, was geschehen war. Rings um den Turm war das Wasser nicht mehr zu sehen. Etwas Riesiges, Goldbraunes schlitterte über die gläsernen Fluten. Nireka erstarrte. Der Goldene war gekommen.

Er hatte den kleinen Drachen im Nacken gepackt. Flügel und Schwänze schäumten das Wasser auf, ohne einzusinken. Nireka hatte davon gehört, dass Drachen nichts und niemanden so sehr hassten wie ihre eigenen Artgenossen. Nur ein Drache kann einen Drachen besiegen, besagte ein Sprichwort. Es war klar, welcher in diesem Fall als Sieger hervorgehen würde.

Nicht nur war der Goldene alt, erfahren und mindestens zehnmal so groß wie der kleine Drache, der gerade erst geschlüpft war – er hatte auch den Überraschungseffekt auf seiner Seite. Der kleine Schwarztürkise begriff wahrscheinlich gar nicht, was geschah. Er schlug um sich, aber der Goldene hielt ihn weiter im Nacken gepackt, um ihm die Kehle zu zerbeißen oder um ihn zu ertränken. Lange konnte es nicht mehr dauern. Und dann wäre Nireka allein mit dem Goldenen.

Der kleine Schwarztürkise sah auf, und ihre Blicke trafen sich. Nireka, ächzte der Drache.

Hatte sie ihn wirklich gerade ihren Namen sagen hören? Nireka spürte einen kühlen Luftzug in sich, so als stünde ihr Herz offen. Schatten und Lichter flirrten über ihre Haut. Geisterschatten. Etwas regte sich in ihr, das nicht sie war. Etwas, das sich an ihr bediente. Aylen. Nireka war zu verblüfft über diese neue Empfindung, um sich zu wehren.

Der kleine Drache bäumte sich mit unerwarteter Kraft auf und peitschte dem Goldenen mit seinem Schwanz ins Auge. Der Goldene ließ ihn los und strauchelte. Schon sprang der kleine Drache ihm an die Kehle. Er riss den Kopf zurück, und das Geräusch reißender Schuppen hallte über das Meer. Eine Feuersäule schoss aus der klaffenden Wunde. Dann stürzte der Goldene zuckend auf die gläsernen Wogen und versuchte sich zu fangen.

„Sabriel“, stieß der kleine Schwarztürkise aus, als er ihn zum ersten Mal wirklich sah.

Der Goldene würgte und fauchte. „Woher kennst du meinen Namen? Wer bist du?“

„Wo ist Totema?“

„Totema“, wiederholte der Goldene und begann zu lachen, wobei Rauch und Feuer aus seiner Wunde drangen. „Komm her, ich erzähle dir von Totema.“

Der goldene Drache, der offenbar Sabriel hieß, schlug mit den Klauen nach dem kleinen Schwarztürkisen. Doch Sabriel wirkte nun schwerfällig, seine Bewegungen unkoordiniert, und der Schwarztürkise wich ihm mit Leichtigkeit aus.

„Sabriel!“, rief er erneut. „Bei deinem Namen banne ich dich!“

Sabriel gab Laute von sich, die beinah wie Worte klangen, aber keine waren. So als hätte er vergessen, wie man sprach …

Nireka spürte wieder den kühlen Luftzug in sich. Sie wusste, dass der schwarz-türkisblaue Drache ihn verursachte. Die Frau aus dem Kristall. Aylen. Wie war das möglich?

Schließlich schlug der Schwarztürkise seine Zähne erneut in die Kehle des anderen. Diesmal ließ er dabei Flammen aus seinem Maul lodern. Sie fraßen sich wie eine weiße Klinge aus Licht durch Sabriels Nacken. Noch nie hatte Nireka einen Drachen bluten sehen. Eine dicke, schwarze Flüssigkeit schwappte hervor, als Sabriels Kopf zur Seite knickte. Der Schwarztürkise – Aylen – stürzte sich auf das Blut. Er umklammerte den offenen Hals wie einen Baum, leckte und trank.

Nireka wich zurück. Auf den Wellen trieb ein größer und größer werdender öliger Teppich. Aber auch wenn sie nicht mehr als das sah, hörte sie, wie der kleine Drache den großen fraß. Ob sie wollte oder nicht.

Der Goldene, ein unsterbliches Geschöpf, war tot. Und sie lebte.

Auf einem halb versunkenen Turm mitten im Meer, mit einem Drachen, der in der Vergangenheit eine Hexe gewesen war.

geschrieben von Jenny-Mai Nuyen - Veröffentlicht in Blog

Kommentare

10 thoughts on “Das Zeitalter der Drachen

  1. Wow! Wie unglaublich spannend! Ich habe bisher noch nichts von Ihnen gelesen und bereue es gerade wirklich. Dieses Buch kommt jetzt ganz fix auf die Wunschliste.
    Viele liebe Grüße
    Daniela
    Instagram: @kleine_leseecke

  2. Dass wir im Turm auf Ayleen treffen, hat mich jetzt nicht wirklich überrascht; das hattest du ja schon mehr oder weniger gespoilert ;-) Aber dass sie jetzt als Drache geschlüpft ist, war eine richtig tolle Überraschung!

    Es freut mich, dass wir jetzt auf einen Drachen treffen, der nicht nur Menschen, Zwerge und Elfen tyrannisiert und Geisterschatten fressen will, sondern (womöglich) auch gut sein könnte. Für Nireka muss das auf jeden Fall total faszinierend sein auf einen Drachen zu treffen, der mit einem spricht und einem nicht sofort etwas antun möchte, wenn man von Kind an Drachen eigentlich nur als das pure Böse kennen lernte. Bin da schon sehr auf die weitere Annäherung gespannt.

    Was mir auf jeden Fall klar zu sein scheint, ist die Wichtigkeit der Namen. Ich denke, dass Nireka Ayleen nur aus dem Ei schlüpfen lassen konnte, weil sie den Namen aussprach. Und ich vermute, dass Ayleen Sabriel besiegen konnte, weil sie Nirekas Namen kannte und deshalb besser Macht von ihren Geisterschatten schöpfen konnte. Oder weil sie Sabriels Namen kannte. Oder beides ;-)

    1. Hi Luc!
      Ja, es ist wahr, ich habe ein bisschen gespoilert, aber ich konnte es mir einfach nicht verkneifen! Ich bin ziemlich schlecht darin, Geheimnisse zu wahren. Oder überhaupt für mich zu behalten, was ich WEISS. Großes Mitteilungsbedürfnis in der Hinsicht.

      Dass Namen eine gewisse Macht bedeuten, hast du ganz richtig erkannt. Keine besonders originelle Idee, aber dafür etwas, das wir alle kennen. Beim Namen genannt zu werden, hat immer einen Effekt auf uns. Wir fühlen uns “erkannt”. Und um das Erkanntwerden, um das Für-andere-Sein vs. das Nur-für-sich-Sein (falls das überhaupt noch ein Sein ist) ging es mir bei der Drachen-Thematik.

  3. Moin Moin,
    na da habe ich ja einiges verpasst, das ich direkt in einem Rutsch nachholen musste :-D
    und verdammte Axt… an dieser Stelle, einfach aufhören? Wirklich?!

    Auch wenn ich erst später einsteige, so freue ich mich, das ich doch wieder vorher rein lesen darf, und kann es kaum erwarten, auch dieses Werk in meinen Händen zu halten :-D (immerhin brauche ich neues lesefutter ;-) )

    aber zur Handlung… ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll……
    ich mag die Charaktere, ich mag die Gemeinschaft, und die Vorstellung, das sie zusammen halten, das was man sich eigentlich auch in der Heutigen Gesellschaft wünschen würde… aber das ist ein anderes Blatt…..

    Ich glaube was mich gerade am meisten Fasziniert, ist die Idee das Drachen aus ‘Menschen’ geboren werden? Oder eher aus deren Kraft? Wie auch immer, das Aylen jetzt ein Drache ist (ist sie das wirklich? oder nur Vorrübergehend? mhm….. so viele Möglichkeiten XD )
    Vor allem prallen da ja auch irgendwie kontraste auf einander. Ich meine, in dem Ei wirkte sie ja eher zerbrechlich, ein zerbrechlicher Mensch halt. Und plötzlich ist sie ein Drache, das als unbesiegbar gilt, mächtig und grausam. (Okay, sie wirkt hier auch schon anders als die anderen Drachen, aber ich denke diese waren vorher auch nicht so erschreckend, sondern sind erst zu dem geworden….. düstere Vorstellung)

    Wie Nireka über das Wasser läuft (eher stoplert) hat mich sehr an die Wellenläufer erinnert, im ersten Moment dachte ich sie ist zu einer Quappe geworden, und musste doch lachen, bei der Vorstellung. Wasser kann jedenfalls sehr Hard werden und dennoch Formbar. Ich finde das kann so einiges widerspiegeln. Oft erscheint etwas, das uns eigentlich so vertraut und bekannt ist, dann doch völlig anders. So wie fließendes Wasser keine Form hat, so wissen wir dennoch wie ein Fluss aussieht, das jede Weller anders ist, und haben direkt ein Bild davon im Kopf. So macht uns Wasser, das sonst durchlässig ist, stutzig, wenn dieses doch eher undurchlässig ist. Die Vorstellung hat mir jedenfalls gefallen, und mich auch noch mal zu nachdenken gebracht. Weil es so unerwartet kam, und mir dennoch so vertraut war :-) (Wellenläufer kann ich jedenfalls echt Empfehlen, wenn du das nicht kennen solltest)

    Auch die Ruinengänger, finde ich interessant. Man erfährt noch gar nicht so viel, über sie. Aber alleine die Vorstellung, das diese durch die Ruinen wandern, und so Geschichte entdecken (und Zauber, und versuchen diese zu Verstehen, und zurück zu bringen? Wäre doch fast noch einen ganzen Roman wert, mit Abenteuern und Geschichten die diese Erleben XD )

    Ich freu mich jedenfalls schon auf die Fortsetzung :-)
    Und danke, das du uns wieder daran teilhaben lässt :-D

    Grüßle
    Taroru

    1. Hallo Taroru!
      Ich freue mich, dass du auch wieder dabei bist. :)

      Bei den Drachen, die unbekümmert einsam sind und Menschen fressen, interessiert mich natürlich am meisten, wie sie zu dem wurden, was sie sind. Der Werdegang eines solchen Subjekts hilft uns ja nicht nur, zu verstehen, wie jemand “kalt” wird, sondern auch, was es heißt, das Gegenteil zu sein. Anhand eines Psychopathen verstehen wir erst, was Mitgefühl ist, und warum wir es haben. Darum war Aylens Geschichte auch mein Lieblingsteil des Romans.

      Und die “Wellenläufer” von Kai Meyer kenne ich natürlich! Die habe ich als Teenager mit großer Begeisterung gelesen und dabei on repeat “Obsession” von Aventura gehört, das lief gerade im Radio und passte zum karibischen Setting. Haha, gute Zeiten! Kai Meyer hat auch gerade ein neues Buch rausgebracht – über ein magisches Haus oder so etwas, sah jedenfalls spannend aus. Muss man isch mal genauer ansehen.

      Oh, die Ruinengänger sind auch eine wiederkehrende Idee in meinen Geschichten. Hab einen unvollständigen Roman in der Schublade, der in einer Welt spielt, die nur noch aus Ruinen und Ruinengänger-Gangs besteht. Irgendwie liebe ich diese Vorstellung. Bestimmt bekommt sie nochmal eine eigene Geschichte!

      1. natürlich bin ich wieder dabei :-D
        solche Chancen, zum vorab rein lesen, kann ich mir doch nicht entgehen lassen :-D

        Gutes Argument, erst wenn man das eine kennt und zu schätzen weiß, weiß man auch was man verloren hat, oder haben sollte.

        Ui, das freut mich das du die Wellenläufer kennst :-D
        Ich mag seine Werke jedenfalls auch, die stehen direkt neben deinem im Regal (Anmerkung, es müssen noch mehr von dir werden ;-)
        Ich glaube du sprichst vom ‘Fürimmerhaus’ ist jedenfalls das neuste von ihm :-)

        Also ds mit den Ruinengängern klingt sehr spannend! Würde ich auch lesen wollen, vor allem auch mit den Gangs, da gibt es auch zig möglichkeiten :-D

    1. :D Das ist genau die Reaktion, auf die JEDER Autor hofft! Hehehe. Am Mittwoch geht es weiter! Ich kann schon verraten, dass die Geschichte von Aylen mein Lieblingsteil des Romans war.

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