Kapitel 8 – 9
Guten Morgen, liebe Vorab-Leser! Ich hoffe, ich kann euch diesen Mittwoch mit ein paar nagelneuen Kapiteln aus dem “Zeitalter der Drachen” versüßen. Endlich ist Aylen aufgetaucht, unsere Bekannte aus dem Prolog – auch wenn sie nicht gleich wiederzuerkennen war. In den heutigen Kapiteln erfahren wir mehr über ihre Vergangenheit. Habe ich schon erwähnt, dass das mein Lieblingsteil des Romans ist? Ich bin gespannt, wie ihre Hintergrundgeschichte euch gefallen wird! Wie immer werden unter allen, die Kommentare hinterlassen, fünf signierte Bücher verlost. Viel Glück!
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Kapitel 8
Nach dem Kampf wirkte das Meer ruhig wie ein zerbrochener Spiegel. Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Schuppen, die den diesigen Himmel reflektierten, trieben auf den Wellen. Manche waren klein wie eine Handfläche, andere breit wie eine Tür. Nireka sah zu, wie sie sich in alle Richtungen verteilten.
„Ich danke dir“, ertönte die tiefe, grollende Stimme des Drachen, der einmal eine Frau namens Aylen gewesen war.
Sein Kopf erschien vor dem Balkonvorsprung, und Nireka sog scharf die Luft ein. Er war gewachsen. Nein, nicht einfach nur gewachsen, sondern vier- oder fünfmal so groß geworden wie vorher. Sein Kopf war riesig. Und seine Zähne, durchscheinend schwarz wie der Kristall, aus dem er entstanden war, hatten nun die Länge ihrer Arme. Nur seine Augen waren noch von derselben stillen Aufmerksamkeit erfüllt wie zuvor. Der Farbverlauf auf seiner Stirn erweckte beinah den Eindruck, als hätte er Augenbrauen, die ihm einen nachdenklichen, fast melancholischen Ausdruck verliehen. So wie bei der Frau im Kristall. Der Frau, die vielleicht nun in diesem monströsen Leib steckte.
Aber wie konnte das sein? Nireka hatte immer geglaubt, Drachen seien ewige Wesen, die nicht geboren wurden und starben.
„Ohne deine Hilfe wäre ich besiegt worden“, fuhr die Bestie fort, ihre Stimme nun leiser, aber immer noch donnernd wie eine Lawine von Kieselsteinen. „Warum bist du wirklich hier?“
Nireka schluckte. „Der Goldene, Sabriel, war hinter mir her, weil …“ Konnte es sein, dass der Drache es nicht wusste? Nireka wollte ihn nicht darauf aufmerksam machen, dass sie von Geisterschatten besessen war, falls er es nicht schon bemerkt hatte. So sagte sie stattdessen: „Ich schätze, du hast mir ebenso das Leben gerettet.“
„Auf welcher Seite stehst du?“, fragte der Drache unbeeindruckt.
„Auf welcher Seite?“
„Wenn Sabriel dich übers Meer verfolgt hat, musst du zu den Zauberern gehören. Aber du bist eine Frau. Ich dachte, sie nehmen keine Frauen auf.“
„Ich habe noch nie eine Zauberin oder einen Zauberer getroffen“, erwiderte Nireka.
Die Augen des Drachen wurden schmal, als suchte er nach Gründen, weshalb sie lügen würde. „Wer bist du? Warum bist du hier?“
„Ich war auf der Flucht vor dem Drachen, den du Sabriel genannt hast, bin in einen Sturm geraten und hier gelandet.“
„Du willst mir weismachen, du hättest sie zufällig zu meinem Turm gelotst?“
Sie? Auch dass Drachen männlich oder weiblich sein konnten, hörte Nireka zum ersten Mal.
„Ich glaube“, sagte der Drache ruhig, „du hast meine Einladung benutzt, um Sabriel herzuführen.“
Nireka schüttelte den Kopf. „Ich schwöre, nein.“
Der Drache maß sie mit seinem Blick. „Wer hat dich das Zaubern gelehrt?“
Sie zögerte mit einer Antwort. Griff der Drache sie lediglich deshalb nicht an, weil er ihr Zauberkräfte unterstellte? Dann klärte sie das Missverständnis besser nicht auf. Sie schluckte. „Du warst eine Zauberin, Aylen, nicht wahr?“
„Du kannst ruhig Hexe sagen.“
Nireka wurde schwindelig. Sie musste sich gegen die geborstene Mauer lehnen, und es fiel ihr schwer zu atmen. „Waren alle Drachen einmal Zauberer?“, fragte sie matt.
„Nein. Hexen.“
Nireka spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. All die Drachenangriffe, die sie erlebt hatte, die Zerstörung, die grausamen Morde, begangen von … von Frauen wie der in dem Kristall?
Der Drache musterte sie eingehend. „Du hast keine Kontrolle über die Geisterschatten in dir? Du kannst keine Zauber wirken?“
„Niemand hat Kontrolle über Geisterschatten“, sagte Nireka. „Es gibt schon lange keine Zauberer mehr.“
Der Drache starrte sie an. „Wie lange?“
„Die letzte Aufzeichnung von magischem Wirken ist ungefähr dreihundertsechzig Jahre alt.“
Der Drache fuhr zurück, als wäre er geschlagen worden. Sein Kopf verschwand.
Nach einer Weile trat Nireka auf den Vorsprung hinaus und spähte hinab. Der Drache hielt sich am Turm fest, den Blick zum Horizont gerichtet, wo das Meer mit den Wolken verschmolz. Seine Klauen waren fester in die Mauer gekrallt, als nötig gewesen wäre.
„Also haben die Drachen gewonnen“, stellte er fest.
Es war keine Frage. Nireka musste nicht antworten.
„Aus allen drei Zauberbergen wurden die Drachen befreit?“, fragte er dann.
„Ich glaube, ja. Es gibt viele Drachen.“
„Viele? Wie viele?“
„Da, wo ich herkomme, haben wir in den letzten fünfzig Jahren vierzehn gezählt. Früher gab es viel mehr, aber dafür waren sie kleiner.“
„Vierzehn“, wiederholte der Drache mit Panik in der Stimme. „Das kann nicht sein. In den Bergen waren neun gefangen. Wie kann es vierzehn geben?“
Nireka dachte nach. „Sie müssen entstanden sein. So wie du.“
Der Drache schwieg, den Blick zum Horizont gerichtet. Nireka sah, dass seine Brust sich schnell hob und senkte, und aus seinen Nüstern drangen Rauchwolken. Schließlich fragte er: „Wer herrscht in Peyra?“
Nireka erinnerte sich, den Namen einmal irgendwo gelesen zu haben. Ein Königshof der Menschen hatte so geheißen. „Soweit ich weiß, gibt es kein Peyra mehr. Es gibt überhaupt keine Königreiche mehr. Nur die sieben Untergrundfestungen der Zwerge auf den Inseln“, sagte sie. „In den Gebirgen gibt es Menschendörfer. Die Elfen reisen als Nomaden, so wie früher, habe ich gehört. Nur um Tahar’Marid gibt es größere Siedlungen an der Oberfläche, die sich nicht verstecken.“
„Tahar’Marid“, wiederholte der Drache geistesabwesend. „Wenn es keine Zauberer gibt, wer dient dann den Drachen als Quelle?“
Nireka zögerte. „Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Du hast dich mir als Quelle zur Verfügung gestellt.“ Er klang ungeduldig. „Als wir Sabriel besiegt haben. Darum dachte ich, du seist eine Hexe.“
Er musste den Moment meinen, als Nireka sich seltsam von ihm geöffnet gefühlt hatte. Dann war es also nicht nur Einbildung gewesen – er hatte irgendwie ihre Geisterschatten benutzt, um stärker zu werden als der goldene Drache.
„Wie erhalten sich die anderen Drachen am Leben?“, erkundigte sich der Schwarztürkise.
Nireka schluckte und sah ihn an. „Die Drachen fressen uns“, sagte sie leise.
Der Drache erwiderte ihren Blick aus seinen großen, türkisblauen Augen, ohne etwas zu sagen. Nireka musste gegen den Drang ankämpfen, zurückzuweichen. Wenn er sie töten wollte, konnte er es so oder so tun, ob sie sich zu verstecken versuchte oder nicht. Er senkte den Kopf und verschwand aus ihrem Gesichtsfeld.
Schließlich spähte Nireka nach draußen. Der Drache war noch da, zusammengekauert am Fuße des Turms wie ein Häufchen Elend. Ein fünf Tonnen schweres Häufchen Elend. In diesem Moment glaubte Nireka wieder Aylen, die Frau im Kristall, an der ermatteten Haltung und der grimmigen Mimik zu erkennen – sofern bei seiner Schuppenmusterung von Mimik die Rede sein konnte.
„Das war nicht, was wir wollten. Nicht, was wir erwartet hatten“, murmelte der Drache. „Wir hatten es gut gemeint.“
„Wer ‚wir‘?“
„Totema und ich.“ Als er aufblickte, lag blanke Verzweiflung in seinen Augen. „Ich bereue nicht, die Erzmagier gestürzt zu haben. Aber wir hätten den Drachen nicht trauen dürfen.“
Nirekas Verstand raste, ohne dass sie etwas begriff. „Du hast die Erzmagier gestürzt?“, wiederholte sie.
„So ist es. Mein Name lautet Aylen.“ Der Drache richtete sich wieder auf und sah ihr in die Augen. „Ich habe die Herrschaft der Erzmagier beendet und die Drachen aus den Zauberbergen befreit.“
Der Meereswind fegte Nireka ins Gesicht, und sämtliche Härchen an ihrem Körper stellten sich auf.
„Hat die Welt mich vergessen?“, fragte der Drache. „Nun, vielleicht ist es besser so.“
„Nein.“ Nireka schlug das Herz bis zum Hals. „Die Geschichte kennt jeder. Der Erzmagier des Elfenvolkes wurde von seiner Geliebten dazu verleitet, die Bestien zu befreien. Warst … du diese Geliebte?“
Der Drache legte die spitzen Ohren an. „Das ist die Geschichte, die man sich erzählt? Was erzählt man sich genau über mich?“
Nireka schluckte. „Dass die Geliebte des Erzmagiers eifersüchtig war, weil er nie Zeit für sie hatte, und verlangte, dass er die Welt ins Chaos stürzt, um ihr seine Liebe zu beweisen.“
Der Drache stieß Rauchwolken durch die Nüstern aus. „Eifersüchtig“, wiederholte er fauchend. „Eifersüchtig? Nicht neidisch? Oder gierig? Das sind doch die anderen beiden Eigenschaften, die eine einflussreiche Frau kennzeichnen. Wie konnte man sich bloß auf Eifersucht festlegen? Oh, dreihundertsechzig Jahre, und die Welt ist keinen Deut besser geworden!“
„Dann ist die Geschichte nicht wahr?“
„Nein!“, polterte der Drache. Er schnaubte noch mehr Rauch.
„Wie war es wirklich?“
„Wer würde einer Hexe schon glauben?“, grollte der Drache. Ihm schien selbst aufzufallen, dass ihn jetzt wohl niemand mehr als Hexe wahrnehmen würde. Kurzerhand wandte er sich ab.
Nireka sah, wie er über die Wellen wankte und weiter draußen ins Wasser hinabglitt. Eine lange Zeit blieb er verschwunden – oder sie. Was auch immer Aylen nun war. Wieso hatte die Hexe sich überhaupt verwandelt? Was konnte jemanden dazu treiben, ein Monster werden zu wollen? Nireka fröstelte und schlang die Arme um ihren Oberkörper.
Als der Drache wieder aus dem Wasser glitt, schien er an etwas herumzukratzen. Mit ausgebreiteten Flügeln kam er hüpfend zum Turm zurück. Er schob eine Tatze durch die Balkonöffnung herein und legte drei Fische vor Nireka ab.
„Du musst hungrig sein“, sagte er, zog mit einer Klaue einen Holzstuhl zu sich und ließ ihn in Flammen aufgehen, wobei er aufpasste, seinen Atem nicht zu nah an Nireka herankommen zu lassen. Dann schob er den brennenden Stuhl in den Kamin.
„Danke“, stammelte Nireka. Sie bemerkte, dass die Fische sogar schon ausgenommen waren. Er musste seine Klauen wie ein Messer benutzt haben. Unter dem erwartungsvollen Blick des Drachen steckte sie die Fische auf den eisernen Schürhaken, der beim Kamin hing, und schob ihn in die Nähe des Feuers. Wenn ihr jemand vor einem Tag gesagt hätte, dass ein Drache ihr Fische fangen würde, hätte sie nicht einmal aus Höflichkeit gelächelt. Aber schließlich war nichts mehr wie vor einem Tag.
„Willst du wissen, was wirklich passiert ist?“, fragte der Drache.
Nireka musste nicht großartig nachdenken. Ihr Leben lang hatte sie darüber gerätselt, was damals wohl geschehen war. Sie zögerte nur, weil sie nicht verstand, was der Drache davon haben sollte, ihr seine Geheimnisse preiszugeben. Aber ihr fiel nichts ein, was er im Schilde führen könnte. Also nickte sie. „Ich wäre dir dankbar, wenn du es mir erzähltest.“
Der Drache zog die Lefzen hoch und entblößte seine schwarztransparenten, armlangen Reißzähne. Es dauerte einen Moment, ehe Nireka begriff, dass es ein Grinsen war.
Nicht erzählen. Zeigen.
Nireka wich zurück. „Was war das?“
Ich kommuniziere mit dir, wisperte eine klanglose Stimme in ihr.
Nireka hielt den Atem an, als der Drache die Geisterschatten in ihr durchflutete und Raum einnahm, wo sie nicht geahnt hatte, dass es überhaupt Raum gab. Und er bot ihr umgekehrt an, auch in ihn einzutreten. Sie spürte es so deutlich, als wäre eine Tür vor ihr aufgetaucht. Er nahm sie bei der Hand und führte sie hindurch zu sich.
Seine Hand … Sie wusste, wie sie sich anfühlte. Klein und warm und trocken. Wie die Fingernägel sich von der etwas dunkleren, silbrigen Haut abhoben. Nireka schloss die Augen, weil die Sinneseindrücke von innen sie vollkommen einnahmen.
Eine Woge der Vertrautheit überkam sie. Ihre Grenzen erzitterten und schmolzen vor Wärme, sodass sie nicht mehr sagen konnte, wer sie war und wer die andere Frau. Der Drachenleib wurde ihrer, groß und mächtig, außen schwer wie Eisen und innen hohl und leicht wie ein sternloser Himmel. Doch wer Nireka an der Hand hielt, war die Erinnerung an einen anderen, viel kleineren Körper. Aylen war ein Halbblut gewesen, Tochter von Menschen und Grauen Elfen. Wie merkwürdig, dass es eine so große Rolle gespielt hatte, wo es doch kaum mehr als ihr Aussehen betraf.
Selten reichen Blicke unter die Oberfläche der Dinge, sagte Aylen. Aber du kannst in die Tiefe meiner Zeit schauen.
Die Tiefe?, fragte Nireka.
Und da flogen wie Laub im Wind Erinnerungen auf, und Nireka streckte sich nach einer aus und sah …
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Kapitel 9
Aylen kam in der Abenddämmerung, als die Sonne untergegangen war und die Himmelsglut zu metallischem Glanz abkühlte. Die Grauen Elfen hatten gerade ihr Lager für die Nacht im Windschutz einer Felsgruppe aufgeschlagen, als sie die junge Frau sahen. Sie wunderten sich, dass keiner ihrer Wolfshunde bellte. Aufgeregt rannten die Kinder zusammen, und ein paar Jugendliche, hungrig auf Heldentaten, schwangen sich sogar auf Pferde, um den Stamm mit ihren weißen Pfeilen und Bögen gegen die Fremde zu verteidigen. Doch Aylen wirkt nicht bedrohlich, wie sie so gelassenen Schrittes durch die Steppe kam, bewaffnet mit nichts als einem seltsamen Stab …
Als die Grauen Elfen erkannten, dass der Stab ein Besen war, den sie lässig über der Schulter trug, begannen sie zu lachen.
Ihre staubigen, an den Säumen zerschlissenen Männerkleider verrieten, wie lange sie schon auf Wanderschaft war. An ihrer silbrig schimmernden Haut, ihrer schmalen, hohen Nase und den hellen Augen ließ sich erkennen, dass sie von den sesshaften Grauen Elfen aus Lepenthe abstammte, die sich seit Generationen mit den Menschen dort vermischt hatten – ein Halbblut. Die Grauen Elfen, die noch an der alten Lebensweise ihres Volkes festhielten, verachteten die Bauern von Lepenthe zwar dafür, dass sie sich ein Leben lang an Felder und Obstwiesen ketteten wie die Menschen, aber es hatte nie Krieg zwischen ihnen gegeben. Im Großen und Ganzen ging man sich höflich aus dem Weg. Darum war es umso überraschender, eine Sesshafte so weit von zu Hause entfernt zu sehen.
In einigem Abstand blieb Aylen stehen und stützte sich auf ihren Besen. Die Hunde liefen nervös herum, aber auch jetzt bellte keiner, fast so, als hätten sie ihre Stimmen verloren. Das schwache Licht der Dämmerung schien sich um die Fremde zu verdichten, während das von Felsformationen durchsetzte Grasland in Dunkelheit versank.
Aylen ließ den Blick über das Lager schweifen, und als sie sich der Aufmerksamkeit der Leute sicher war, verneigte sie sich vor ihnen, wobei sie den Besen elegant hinter sich schwang.
„Sollen wir sie einladen?“, fragten sich die Grauen Elfen.
„Sie ist ein Halbblut aus Lepenthe, was will sie bei uns?“
„Ein Wanderer ist ein Wanderer – sie soll ihre Geschichte erzählen!“
„Was hat eine Bäuerin schon Spannendes zu erzählen?“
Sie konnten nicht ahnen, dass Aylen längst unter ihnen war und alles mitanhörte. Die Fremde, die die Leute im Abendlicht sahen, war nur ein Spiegelbild – ein Werk von Zauberei. Die echte Aylen hatte sich unbemerkt als Schatten ins Lager geschlichen, sichtbar, aber übersehen, denn sie wollte herausfinden, ob sie hier willkommen war oder lieber weiterzog. Sie konnte nicht vorsichtig genug sein nach dem, was sie erlebt hatte.
Die Leute schienen unschlüssig, ob ihre Gesellschaft eine warme Mahlzeit wert war, aber sie überlegten nicht, ihr etwas anzutun. Aylen bewegte die Finger wie Flammen und ließ sie aus Hüfthöhe bis über ihren Kopf steigen. Ihr Spiegelbild richtete sich auf und ließ den Besen los. Doch statt umzukippen, schwebte der Besen in der Luft.
Der Wind ließ das Reisig des Besens erzittern. Langsam begann er sich im Kreis zu drehen. Als die Grauen Elfen ihre Stimmen wiederfanden und aufgeregt zu reden begannen, griff Aylens Spiegelbild wieder nach dem Besen, doch der ruckte in die Höhe – und zog Alyen mit. Die Grauen Elfen schnappten nach Luft. Eine Handbreit schwebte sie nun über dem trockenen Steppengras. Dann ging sie um den Besen herum, ohne dass ihre Füße die Erde berührten, begann zu hüpfen und ein wenig um ihn zu tanzen. Im Schatten lächelte Aylen, und ihr Spiegelbild im Licht lächelte mit.
Die Grauen Elfen stießen Laute des Erstaunens aus. „Eine Hexe!“
Aylen ärgerte sich über die abfällige Bezeichnung, denn sie war eine Zauberin. Doch sie hörte mehr Begeisterung als Verachtung oder Furcht aus den Stimmen heraus, und das war ein gutes Zeichen. Sie beschloss, zu bleiben. Zusammen mit einem Pulk aus Neugierigen lief sie ihrem Spiegelbild entgegen. Als sie es umzingelten, trat sie ins Licht und wurde eins mit der Illusion, die nun wieder auf dem Boden aufzukommen schien und den Besen gegen ihre Schulter lehnte. Niemand sah, wie das Spiegelbild mit der wirklichen Frau verschmolz. Alle bestaunten den Besen, dessen Reisig sich wie kleine, dünne Arme streckte und reckte und Hände schüttelte. Doch einige empfanden das Bedürfnis, zu blinzeln, so als hätte die Abendbrise ihnen etwas von dem grauen Sand in die Augen geweht, der manchmal von der Wüste Uyela Utur bis ins Hochland wehte. – Und tatsächlich waren die kurzen, dunklen Locken und die Falten der Kleidung der Fremden voller grauem Sand.
„Der Besen lebt!“ Die Kinder riefen alle durcheinander. „Kann man auf ihm reiten? Kommst du vom Zauberberg der Menschen? Hast du deine Ausbildung beim Erzmagier dort gemacht? Lässt du uns auf deinem Besen fliegen?“
„Ich komme vom Berg Gothak“, bestätigte Aylen. „Aber der Erzmagier ist nicht mein Meister. Er ist mein Feind.“
Das sorgte für verblüffte Stille. Doch mit ihrem Besen hatte sie die Herzen der Leute erobert. Sie nahmen sie an den Händen, führten sie an das Lagerfeuer, in das noch Holz nachgelegt wurde, und umsorgten sie wie einen Ehrengast.
Dankend nahm sie einen Becher heißen, mit Lavendel aromatisierten Honigwein entgegen. Er schmeckte köstlich nach all den Wochen, in denen Aylen nichts als das ungesalzene Fleisch von selbst erlegten Tieren gegessen hatte. Eine hübsche Frau stellte ein Tablett vor ihr ab, beladen mit klebrigen Küchlein aus Rahm, Mandeln, getrockneten Aprikosen und dem dunkelroten, fast schwarzen Honig der Erdbienen, die es nur hier in der Hochebene gab. Ausgehungert, wie Aylen war, schob sie sich ein Küchlein ganz in den Mund. Die Graue Elfe lächelte sie an, weiße Zähne in einem silbrig schimmernden Gesicht. Schöne Frauen machten Aylen immer ein wenig befangen, darum senkte sie den Blick und tat, als müsste sie sich Honig von den Fingern lecken.
Ein älterer Mann zog ihr schwatzend die Schuhe und den Umhang aus, um die Risse und Löcher zu flicken, und zwei junge Mädchen gaben ihr Gewänder, während eine weißhaarige Frau ihre vor Schmutz starrenden Kleider zum Waschen fortbrachte.
„Brauchst du noch etwas? Willst du ein Bad nehmen?“, fragten die Grauen Elfen freundlich.
Sie hatte sich noch am Morgen im eisigen Flusswasser gewaschen, aber eine Sache wünschte sie sich wirklich seit langem. Sie fuhr sich über den Kopf. „Würde mir jemand den Gefallen tun, mir die Haare abzurasieren? Sie sind viel zu lang.“
Das sorgte für allgemeine Erheiterung. Aylen hatte sich den Kopf geschoren, als sie ihr Dorf in Lepenthe verlassen hatte, doch inzwischen war ihr wieder ein welliger, dunkelbrauner Teppich in den Nacken gewachsen. Bei den Grauen Elfen hier trugen die Frauen ihr Haar, das die Farbe von Silber und Gold hatte, in langen Zöpfen, und nur die Männer ließen sich Muster ins Schläfenhaar rasieren. Mehrere Elfen traten vor, um ihr diesen Dienst zu erweisen. Sie wählte eine Hochschwangere, die ihr Talent, Haare zu schneiden, so laut und blumig anpries, dass sie die Anwesenden damit zum Lachen brachte. Sie plapperte fast unentwegt, während sie Aylen Schlangenmuster auf den Kopf rasierte – angeblich waren Schlangen die Schutztiere von Reisenden, die allein unterwegs waren wie sie.
Aylen wusste natürlich, dass die Leute sich in der Hoffnung um sie scharten, dass sie ihnen helfen würde. Nicht umsonst versuchten vor allem Alte, Kranke und Schwangere, ihr Gutes angedeihen zu lassen. Sie schenkten ihr Essen, Kleidungsstücke, Armbänder mit winzigen Glöckchen daran und allerhand andere Dinge, die ungeeignet waren, um sie auf ihrer Reise mitzunehmen, sodass sie sie freundlich ablehnen musste. Sie konnte ohnehin niemandem helfen, denn sie war keine ausgebildete Zauberin und verstand nichts von Heilungen. Aber wem sie in die Augen sah, den konnte sie für eine Weile überzeugen, keinen Schmerz und keine Sorge mehr zu empfinden. Die Dankbarkeit der Leute, die sich für geheilt und gesegnet hielten, war ihr ein wenig unangenehm, und da man dies mit Bescheidenheit verwechselte, stieg sie noch im Ansehen der Leute.
Währenddessen umringten die Kinder Aylens ständigen Begleiter, der sich bereitwillig streicheln ließ und gelegentlich ein Kind mit seinem Reisig kitzelte.
„Wieso hast du einen Besen dabei, wenn du gar kein Zelt hast, das gefegt werden muss?“, wollte ein Junge wissen.
„Gute Frage“, lobte Aylen. „Aber es ist kein Besen. Es ist ein Stab. Ein Zauberstab.“
Bei genauerer Betrachtung konnte man sehen, dass das Reisig nicht am Stiel angebunden war, sondern daraus hervorwucherte. Die Kinder reckten die Köpfe.
„Sieht trotzdem aus wie ein Besen“, gluckste der Junge. Die anderen gaben ihm recht.
Früher hatte es Aylen unsäglich geärgert, wenn man ihren Stab als Besen bezeichnet hatte. Nur eine Hexe mit einem Besen. Aber jetzt rang sie sich zu einem Lächeln durch, denn die Kinder meinten es nicht böse. „Nun. Wie so oft in der Zauberei trügt der Schein.“
„Fegt er von selbst?“, fragte ein Mädchen.
„Wäre es ein Zauberbesen, wäre er jetzt im Dienst eines Fürsten und würde die Gemächer einer feinen Dame sauber halten. Aber da ich meinen Stab nicht absichtlich erschaffen habe, ist er für jegliche Art von Arbeit zu … eigenwillig.“
„Wozu ist der dann gut?“, fragte der Junge.
„Ich fürchte, zu gar nichts. Was daran liegt, dass ein Teil meiner Seele in diesem Holz steckt.“
Aylen erwartete, dass jetzt die Frage nach dem Fliegen kommen würde, so wie immer, doch der Junge betrachtete nur ehrfürchtig den Besen. „Wie heißt er?“
Aylen biss sich in die Backe. „Also, ich nenne ihn meistens … Besen.“
„Besen“, wiederholten die Kinder respektvoll im Chor, und Aylen musste grinsen.
Als das letzte Tageslicht verblasst war und das Lagerfeuer gelb und fröhlich flackerte, entlockten ein paar Musiker ihren Trommeln und Rasseln die Rhythmen, für die die Grauen Elfen berühmt waren – aber nicht wild und laut, wie man es von ihnen kannte, sondern langsam und leise, so wie Pferde, die sich aufmerksam dazugesellten, um zu begleiten, was auch immer die Zauberin erzählen mochte.
In großen Kesseln wurde Eintopf gekocht. Bis er fertig war, bereiteten ein paar ältere Frauen dünne Streifen Ziegenfleisch und Fladenbrote auf Steinplatten zu, die sofort mit Wiesenkräutern verzehrt werden konnten. Aylen aß heißhungrig davon. Fast stiegen ihr Tränen in die Augen, weil es so gut schmeckte und weil ihr klar wurde, wie sehr sie es vermisst hatte, ein Mahl mit anderen zu teilen.
Eine der alten Frauen, die das Brot backten, forderte sie auf: „Sage uns, was dich herführt, Tochter von Lepenthe.“
Als Köchin am Feuer stand ihr das Recht zu, Befehle zu erteilen, und so nickte Aylen. Alle warteten darauf, dass sie sprach. Neben ihr begann Besen wie mit Füßen im sandigen Boden zu scharren. Das Zauberding hatte die lästige Angewohnheit, Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die Aylen nicht vor sich selbst zugeben wollte und erst recht nicht vor anderen. Ihr einziger Trost bestand darin, dass die meisten Leute nicht gleich darauf kamen, dass Besen ihr Innenleben spiegelte.
„Vielleicht habt ihr davon gehört, dass alle sieben Jahre die Erzmagier der drei Zauberberge Lehrlinge annehmen“, begann sie. „Man muss dafür einen Zauberberg erklimmen. Wer es schafft, der hat sich als würdig erwiesen und wird in die Geheimnisse der Zauberkunst eingeweiht, um sein Talent zu schulen. Jedenfalls lautet so das Versprechen der Erzmagier. Ich habe auf dieses Versprechen vertraut. Und ich habe es geschafft. Ich war auf dem Gipfel von Gothak, beim Erzmagier der Menschen jenseits der Wüste.“
Nur das Feuer knackte, und die Instrumente tänzelten und trabten ihrer Stimme nach. Ansonsten herrschte Schweigen. Die Grauen Elfen wussten, wie aberwitzig es war, den Berg Gothak erklimmen zu wollen. Der höchste Berg des Südens erhob sich am Rand der Wüste Uyela Utur aus einem Gewirr schroffer Klippen, deren Schluchten so tief waren, dass man das Wasser auf ihrem Grund nicht sehen, sondern nur als leises Echo hören konnte. Sein Gipfel bohrte sich schneeweiß und spitz wie ein Wolfszahn in den Himmel. Man musste schon verrückt sein, um dort hinaufzuwollen. Oder ein Zauberer.
Alle sieben Jahre versammelten sich junge Männer aus dem Menschenvolk am Fuß des Berges Gothak. Man nannte sie Krähen, weil sie oft lauthals über ihre ehrgeizigen Ziele krakeelten und eher ungeschickt auf den Hängen des Berges herumkraxelten. Die meisten sah man nie wieder, verschluckt von irgendeiner dunklen Schlucht oder den dämonischen Kräften, die den Zauberberg umwehten. Manche kamen auch halb verhungert durch die Wüste und das Hochland, weil sie die Schande nicht ertrugen, als Versager in ihre Heimat zurückzukehren. Nur selten kam einer als Delegierter auf dem Weg zum Erzmagier der Elfen oder zum Königshof der Elfen durch die Hochebene – älter, ernster, angetan mit den grauen und weißen Gewändern und dem spitz zulaufenden Filzhut eines Zauberers. Diese erfolgreichen Schüler nannte man Adler. Denn sie hatten es geschafft, zum Gipfel zu fliegen. Oder jedenfalls glaubten die einfachen Leute, dass sie geflogen waren. Anders ließ sich kaum erklären, wie sie die Spitze erreicht hatten.
Auch Aylen hatte sich darüber den Kopf zerbrochen, wie sie es anstellen sollte.
„Ich habe alle Gefahren überstanden, alle Prüfungen gemeistert“, fuhr sie leise fort und hielt Besen fest, als wolle sie sich an ihn anlehnen. In Wahrheit unterdrückte sie, dass er stolz auf und ab hüpfte. „Ich habe bewiesen, dass in mir Talent steckt, das es verdient, ausgebildet und gefördert zu werden. Ich betrat die Halle, die in die hohle Bergspitze gehauen ist. Dort erwartete mich der Erzmagier Salemandra. Er schien nicht erfreut, mich zu sehen, und ich begriff, warum. Bei ihm waren bereits zwei junge Männer, die ich während meiner Reise mehrfach getroffen hatte. Ich wusste, dass sie kein magisches Talent besaßen, nur törichten Hochmut. Und doch hatten sie es wundersamer Weise auf den Gipfel geschafft, während ich andere Männer mit mehr Talent hatte sterben sehen. Es gab nur eine Erklärung dafür: Einer der beiden neuen Lehrlinge war der Sohn des Zauberers, der dem König der Menschen in Peyra dient, der andere war ein Neffe Salemandras.“ Sie hielt einen Moment inne, überwältigt von Bitterkeit. „Es war beschlossene Sache, dass diese hochgeborenen Söhne Salemandras Lehrlinge werden würden, schon bevor sie aufgebrochen sind. Salemandra hat all die Zeit seine schützende Hand über sie gehalten – dieselbe Hand, die uns andere zu töten versucht hat. Es gefiel ihm nicht, dass ich noch lebte. Also holte er zu einer Attacke aus, um mich zu erledigen. Doch ich entkam. Und hier bin ich also.“
Sogar die Instrumente waren verstummt. Nur das Lagerfeuer prasselte.
Aylen blickte auf. Alle hingen gebannt an ihren Lippen. Sie grinste. „Bevor ich floh, habe ich aber noch von dem Wasser getrunken, mit dem der Erzmagier seine Lehrlinge empfängt. Ich fand, das hatte ich mir verdient.“
Auch ihre Zuhörer lächelten verblüfft bei der Vorstellung.
„Es war nicht irgendein Wasser. Es schmeckte salzig und … danach fühlte ich mich … anders.“ Aylen unterdrückte ein Schaudern. Lauter fuhr sie fort: „Die drei Erzmagier der Menschen, Elfen und Zwerge behaupten seit alten Zeiten, dass sie in den Bergen Gothak, Faysah und Tahar‘Marid Drachen bewachen, die ansonsten über die Völker herfallen würden. Dafür verehren wir die Erzmagier und alle Zauberer, die bei ihnen in die Lehre gegangen sind. Wie genau sie die Drachen bewachen, wissen nur die Erzmagier selbst. Und auch, ob es wirklich Drachen sind“, sagte Aylen langsam. „Ich habe jedenfalls keine Drachen gesehen. Sondern Frauen, gefangen im Gestein. Ihre Tränen tropften in den Kelch. Ich wusste nicht, was ich trank, doch danach erfüllte mich eine so starke, neue Zauberkraft, dass ich die Herkunft des Salzwassers auf der Oberfläche gespiegelt sah. Ich dachte immer, Zauberkraft sei etwas, womit man geboren wird. Aber die Erzmagier und ihre Lehrlinge gewinnen Zauberkraft aus den Tränen dieser geheimnisvollen Gefangenen.“
Aylen spürte, dass sie unglaubwürdig klang. Denn wer wollte schon etwas so Schreckliches glauben? Sie bemühte sich um eine heitere Miene und verschränkte die Hände um Besen, der leicht vibrierte. „Nun, ich werde noch herausfinden, was es mit diesen Frauen und der Macht der Erzmagier genau auf sich hat.“
„Wie das?“, fragte die Brotbäckerin und reichte ihr noch einen Fladen, in den sie Fleisch und gehacktes Grün gewickelt hatte.
„Ich bin auf dem Weg zum Berg Faysah, um Lehrling des Erzmagiers der Elfen zu werden“, erwiderte Aylen leichthin.
Die Leute sahen sich groß an. Aylen empfand ein Kribbeln vor Genugtuung, während sie das Brot in wenigen Bissen vertilgte. Sie war es gewohnt, mit ihren Plänen für Staunen zu sorgen, manchmal auch für Kopfschütteln, und wenn sie ehrlich war, genoss sie diese Momente mehr als alles andere. Sie war eine Tochter von Bauern gemischten Bluts; in ihrem Dorf hatte es noch nie jemanden gegeben, der aufgebrochen war, um ein Zauberer zu werden, ganz zu schweigen von einer Zauberin. Soweit sie wusste, war noch nie eine Frau der Zunft der Zauberer beigetreten. Frauen mit magischem Talent galten als Hexen und wurden für ihren Mangel an Wissen verachtet, bis man ihre Hilfe brauchte.
Auch zu Hause hatten die Leute verblüfft geschwiegen, als sie ihnen von ihrem Vorhaben erzählt hatte. Oder sich über sie lustig gemacht. Du mit deinem Besen, der nicht fegen kann? Dich würden sie nicht mal als Dienstmagd behalten.
Sie würde nicht zulassen, dass diese Neider und Spötter recht behielten. Allein deshalb würde sie sich beim Erzmagier der Elfen bewerben, weit im Westen, auf dem Berg Faysah. Immerhin floss in ihr, wie in allen Elfen von Lepenthe, auch menschliches Blut. Und wenn man sie in Faysah ebenfalls nicht annahm, dann würde sie sich beim Erzmagier der Zwerge auf Tahar’Marid bewerben. Und wenn selbst der sie nicht annahm … nun, dann würde sie sich etwas anderes einfallen lassen. Aber sie würde die Geheimnisse der Zauberei ergründen. Sie würde die größte Zauberin aller Zeiten werden. Diese Gewissheit erfüllte sie wie eine Flut, brachte ihre Knie zum Zittern und ließ sie die Fäuste ballen. Aylen, merkt euch diesen Namen! Das wollte sie den Leuten am Lagerfeuer sagen. Aber sie musste sich gedulden. Ihre Taten würden für sie sprechen, wenn die Zeit gekommen war.
Sie bemühte sich wieder um ein Lächeln und strich das Reisig glatt, das Besen angeberisch spreizte. „Eure Köchinnen sind wirklich gut, das muss man wohl sagen. Gibt es noch Honigküchlein?“
Das Tablett tauchte zwischen den Leuten auf, und man reichte es bis zu ihr weiter, wobei es sich merklich leerte. Während sie dem Tablett mit ihrem Blick folgte, hielt sie aus den Augenwinkeln nach der hübschen Frau Ausschau, aber sie entdeckte sie nirgends. Die Vorstellung, sie könnte gegangen sein – mitten in ihrer Erzählung? –, war kränkend und bestätigte sie in dem Vorurteil, dass schöne Frauen sich von ihr eingeschüchtert fühlten und sie nicht mochten. Sie schob sich ein Küchlein in den Mund und wischte die Honigreste vom Tablett mit dem Finger auf.
„Wie hast du es geschafft, Gothak zu besteigen?“, fragte eine Köchin, die am Kessel stand.
„Ich könnte nicht erklären, wie ich zaubere, selbst wenn ich wollte“, sagte Aylen ausweichend, erwiderte den Blick der alten Frau aber fest. Blicke waren mächtiger als Worte – an sie erinnerte man sich besser als an Gesagtes. Die Alte würde später das Gefühl haben, eine Antwort erhalten, sie aber nicht ganz verstanden zu haben. „Soweit ich weiß, hat jeder Zauberer seine eigene Art zu zaubern, und ein anderer könnte meine nicht nachahmen.“
„Was ist deine Art zu zaubern?“, fragte jemand aus der Menge.
Es war die hübsche Frau. Der Flammenschein spiegelte sich auf ihren hohen Wangenknochen und in ihren goldenen Augen, die so gelassen blickten, als könnte Aylen sie mit nichts überraschen. Das weckte umso mehr den Wunsch in ihr, es doch zu tun.
„Ich tanze“, sagte sie.
„Du tanzt?“, fragte die Graue Elfe.
„Ich tanze.“ Sie konnte regelrecht auf den Stirnen der Leute sehen, wie sie es sich vorzustellen versuchten.
„Zeig“, forderte die Elfe sie auf, setzte eine Flöte an die Lippen, die an einer Schnur um ihren Hals hing, und begann zu spielen.
Eine Weile blieb Aylen sitzen und lauschte ihrer Musik. Es war eine fröhliche, aber kühle Melodie, die beinah etwas Lauerndes hatte. So wie ein Tag im April, der sonnig werden oder in Regen umschlagen konnte. So wie Neugier, die sich noch nicht zwischen Zuneigung und Abneigung entschieden hatte.
Als sie das Wesen des Liedes erfühlt hatte, erhob Aylen sich und ging ein Stück vom Feuer weg. Besen folgte ihr in Schlangenlinien. Sie betrachtete den zuckenden Schatten, den der Flammenschein ihr an die Füße heftete, und konzentrierte sich auf das Wesen der Melodie, die Wahrheit im rhythmischen Atem der Flötenspielerin, die Klang wurde, Aylens Ohren erfüllte, ihre Brust. Ihre Füße. Den Schatten daran.
Weil alles alles spiegeln will.
Sie begann zu tanzen. Langsam erst, sodass man von außen kaum sehen konnte, dass ihr Körper den Rhythmus in sich aufnahm. Sie ging in die Knie und ließ die Melodie ihre Arme tragen. Sie war nicht besonders grazil. Ihre Gliedmaßen waren kurz, selbst für eine Elfe mit Menschenblut. Sie hatte den Willen ihrer Knochen, zu wachsen, bei einem unvorsichtigen Zauber mit fünfzehn Jahren verloren und war seitdem nicht größer geworden. Aber es ging nicht um Anmut, sondern um Wahrheit. Sie malte der Musik ein Spiegelbild.
Das war leichter gesagt als getan, aber auch leichter empfunden als erklärt. Spiegelbilder waren ein vollkommenes Ja und Nein zugleich; ein Ja, weil sie imitierten, und ein Nein, weil sie genau verkehrt herum waren, das Gegenteil jeder Sache. Aylen hatte das in einem Geistesblitz als Kind begriffen, und all ihre Zauberei beruhte auf diesem Wissen, das spontan und ohne Lehrer zu ihr gekommen war.
Sie musste ihr Ja und Nein mit Bedacht wählen, immer im Wechsel. Ihre Handgelenke kreisten, ihre Finger spreizten sich. Sie drehte sich und hopste im Rhythmus von einem Fuß auf den anderen, und Besen hüpfte ihr nach. Eine Krähe, das sieht die Flötenspielerin in mir. Eine Angeberin.
Aylen zeigte ihr, was sie sehen wollte. Und als sie ein Spiegelbild ihrer Erwartung geworden war, konnte Aylen sie verändern. Sie richtete sich auf, öffnete die Arme, öffnete die Melodie mit, die größer und wärmer zu werden schien, und legte den Kopf zurück. Ihr Schatten schien einen krummen Schnabel zu bekommen. Sie öffnete die Hände. Ihrem Schatten wuchsen Schwingen mit langen Federn. Und dann löste sich ihr Schatten von ihren Füßen und segelte um das Lagerfeuer herum, über die staunenden Leute und über die Zeltwände hinweg, und Besen flog in einem hohen Bogen hinterher.
Aylen wollte ihren Schatten größer und größer werden lassen, aber dadurch wurde er schwerer zu erkennen, und die Musik hörte beinah auf, Musik zu sein, so langgezogen waren jetzt die Töne. Also kam sie auf eine andere Idee, um die Menge gefangen zu halten: Der Hals des Adlers wuchs in die Länge, hinter seinen Klauen rollte sich ein Schwanz aus.
„Eine Schlange!“, stieß jemand aus. „Eine geflügelte Schlange!“
Aylen bewegte die Hände vor dem Gesicht. Die Schattenschlange öffnete ihr Maul und präsentierte lange Giftzähne. Dann verwandelte sich ihr Profil in Aylens; ihr runder, kahler Kopf, ihr scharf geschnittenes Kinn wurden sichtbar. Die Leute sprangen auf und klatschten.
Aylen hatte nie davon gehört, dass ein Zauberer das Tanzen benutzte wie sie, um Zauber zu wirken, und vielleicht war sie tatsächlich die Einzige in ganz Tana, die das konnte. Sie lächelte. Nun, da sie von dem Tränenwasser aus Gothak getrunken hatte, konnte sie es sogar besser denn je. Wie leicht ihr dieses Kunststück gefallen war! Früher hätte sie sich zuerst in Trance tanzen müssen.
Sie überlegte gerade, in welches Tier sie ihren Schatten als nächstes verwandeln sollte, als die Flötenmusik erstarb. Die Menge jubelte. Aylen sah, wie die Spielerin aufstand und ging. Hatte sie etwa gerade die Augen verdreht?
Nur eine Hexe, die Zaubertricks braucht, um sich beliebt zu machen. Aylen schluckte und musste sich mit Mühe daran erinnern, dass nicht alle so feindselig waren. Vielleicht hatte die Graue Elfe einen ganz anderen Grund gehabt zu gehen. Und selbst wenn nicht – Aylen kümmerte sich schon lange nicht mehr darum, was andere über sie dachten. Mit ein paar raschen Handbewegungen zog sie ihren Schatten in drei Teile; einer wuchs ihr wieder an die Füße, die anderen beiden behielten den Umriss einer Schlange und eines Adlers und harrten zuckend auf der nächsten Zeltwand aus. Kinder rannten hin, um sie zu bestaunen und ihre eigenen Schatten mit ihnen verschmelzen zu lassen.
„Du bist eine echte Zauberin, obwohl du nicht bei einem Erzmagier in der Lehre warst“, sagte ein hünenhafter Mann voll Ehrfurcht. „Ich hoffe, du bekommst in Gothak die Anerkennung, die dir zusteht.“
Aylen verneigte sich vor dem Mann. „Wenn ich in Gothak aufgenommen werde, komme ich danach wieder. Und dann kann ich euch eure Gastfreundschaft mit mehr danken als mit Spielereien.“
Am nächsten Morgen gaben die Leute Aylen ein Bündel mit Essen, dem berauschenden vergorenen Saft von Dornrübchen und eine kräftige, sanftmütige Stute mit grauem Fell, schwarzer Mähne und schwarzen Fesseln. Mit ihr würde Aylen die Hochebene doppelt so schnell durchqueren und den Schergen des Erzmagiers von Gothak vielleicht entkommen.
Sie verabschiedete sich herzlich von den Leuten und versprach noch einmal, wiederzukehren, wenn sie ihre Ziele erreicht hatte.
Der Adler und die Schlange aus Schatten schwebten noch für einige Tage neben den Grauen Elfen her, ehe sie sich im Wind zerstreuten wie Wüstensand.
Ich bin sooo gespannt wie die Geschichte weitergeht. Hatte mir eigentlich gedacht, dass ich dieses Mal nur den Prolog und Kapitel 1 lese. Aber es hat mich sooo gepackt dass ich gar nicht genug davon bekommen kann. Eine richtig coole Idee.
Oh man wann geht es endlich weiter ich kann es kaum erwarten 😍. Ich spähe jeden Tag in deinen Blog um nachzusehen. Seit langem hat mich keine Geschichte mehr so gefesselt wie diese! Hoffentlich kommen noch weitere 100 Kapitel. Die Beschreibungen der Figuren sind wirklich sehr bildlich beschrieben und ich kann mich mit jedem Charakter identifizieren. Einfach fesselnd!
Guten Morgen, liebe Jenny! :)
Mir gefällt der temporeiche Einstieg in die Geschichte von Anfang an, die Erzählung hat genau die richtige Geschwindigkeit, die einen als Leser wirklich mitreißt. Ein Satz aus Kapitel 1 ist mir besonders im Kopf geblieben, „Vom kleinen Mädchen direkt zur kinderlosen Alten.“ Das ist sehr treffend beschrieben. Es gefällt mir, dass du dich in deinen letzten Romanen künstlerisch mit Themen wie Mutterschaft und Schwangerschaft beschäftigst, das sieht man in Fantasyromanen glaube ich eher nicht so häufig.
Ich mag die Idee, Besen und Zauberstab gegenüberzustellen, der eine als Zeichen patriarchaler Herrschaft, der andere als ein als minderwertig angesehenes „weibliches“ Symbol.
Und mittlerweile bezeichnet sie sich selbst stolz als „Hexe“ statt als „Zauberin“… Aylen ist ein cooler Charakter. :D Ich kann verstehen, dass du mit ihr viel Spaß hattest.
Ich freue mich schon sehr darauf, zu erfahren, wohin die Geschichte uns noch führen wird!
Ich glaube, der Roman könnte eine meiner Lieblingsgeschichten von dir werden. <3
Herzliche Grüße und danke für dein Schreiben <3
Lara
Uff….. okay…. so hatte ich das nun tatsächlich nicht erwartet.
Also wie das mit der Magie/Zauberkraft ist. Durch die Tränen… wären ihre eigenen dazu auch in der Lage?
Ihre Ziele sind auf jeden Fall hoch gesteckt, aber das muss vielleicht auch so sein, um zielsprebig darauf hin zu arbeiten.
Sie ist auf jedenfalls eine Selbstbewusste junge Frau. Respekt.
Vor allem auch, wie sie die Leute beobachtet und abschätzen kann, finde ich beeindruckend.
Bin im allgemeinem aber auch gespannt, wie die Fäden am ende alle zusammen laufen werden, und sich alles fügen wird (hoffe ich jedenfalls :-D )
Freu mich auf die nächsten Zeilen :-)
Diese beiden Kapitel haben so schöne, sinnliche, phantasievolle, originelle Momente. Ich habe es wirklich sehr genossen.
Bereits die Art und Weise, wie Aylen in Nireka “eintritt”, aber auch umgekehrt “in sich” einlädt, und man wirklich eins wird, ist sehr abstrakt, aber auch wunderschön.
Da Musik für mich in meinem Leben eine sehr wichtige Rolle spielt, fand ich es total poetisch, dass Ayleen ihre Zauber im Tanzen wirkt. Und dabei vom bejahenden und verneinenden Spiegelbild ausgeht: von der Erwartung der Anderen hinüber zu der Änderung. Faszinierend, wie der Zauber nicht einfach nur ein einseitiges Wirken ist, sondern eher ein gewisser Austausch: die Musik der Flötenspielerin beeinflusst Aylens Zauber, aber der Aylens Tanz ändert auch wieder die Töne des Flötenspiels. Total faszinierend.
Ayleen wirkt natürlich sehr ehrgeizig und stolz. Dabei aber dennoch nicht unsympathisch und auch nicht unsensibel gegenüber ihren Mitmenschen. Sie hat sich halt hohe Ziele gesetzt, die sie unbedingt erreichen will, und wird von den Ungerechtigkeiten der Welt blockiert: Patriarchat, Vetternwirtschaft, Tradition.
Ich bin Feuer und Flamme für Aylen und ihre Geschichte! Aylen, die jetzt ein Drache ist, uns aber mit in ihre Vergangenheit nimmt und uns ihre Geschichte als junge Frau/Hexe nochmal erleben lässt!! Mein Herz brennt für Aylen und ich kann nicht erwarten, wie es weiter geht …….