Heute morgen bin ich mit der Idee und der Melodie dieser Geschichte aufgewacht, ich habe sie so aufgeschrieben, wie sie mir aus dem Schlaf kam:
In der großen Stadt kam ein Sohn zur Welt
Sohn von Eltern so reich, wie es wenige schaffen
Sie fühlten sich wichtig, denn es war so viel Geld
So viel Geld kam von den Ölgeschäften.
Der Sohn wuchs auf bei bezahlten Leuten
Bei Müttern und Lehrern und Fahrern zuhauf
Seltener sah er die Eltern und Kinder
Auf die nicht dasselbe Schicksal zutraf.
Mit elf oder zwölf begann er zu schreiben
Denn Schreiben bekämpft die Einsamkeit
Und er schrieb über große Abenteuerreisen
Mit Menschen, die er liebte, und die es nicht gab.
Er schrieb eines Nachts am offenen Fenster
Er schrieb und schrieb und schlief dabei ein.
Ein frecher Wind stahl sich durch das Fenster
Und blies die Seiten, zwei, fünf, zwölf, hinaus.
In der ersten Stunde des neuen Tages
Es war noch zu früh für Sonnenlicht,
da kam ein Mädchen müde des Weges
ein Mädchen, so arm, dass es gewöhnlich ist.
Im Dämmerlicht sah sie die blassen Papiere
Und staunte nicht schlecht, als sie da las
Von Kriegern und Zaubern und magischen Tieren
In charmant gekrakelter Jungenschrift.
Sie blickte hinauf zum offenen Fenster
Und sah den Jungen schlafend am Tisch.
Da ging ihr ein Windstoß warm durch die Seele
Der schlafende Junge, ihr schien er so hübsch.
Sie versuchte vergeblich, ihn wach zu rufen
Und hatte im Grunde auch gar keine Zeit
Da legte sie die Papiere behutsam
Durchs Eisengitter ins Rosenbeet.
Auf die letzte Seite hatte sie nach kurzem Zögern
Schließlich noch zwei Sätze notiert:
Deine Geschichte ist wirklich wunderschön!
Zu gern würd ich wissen, wie es weitergeht.
Der Jung erwachte zu später Stunde
Und erschrak, als er merkte, dass etwas fehlt
Man muss sich vorstellen, wie er sich wunderte,
als er die Blätter im Rosenbeet fand
mit der kleinen Notiz in schwungvollen Lettern
eindeutig geschrieben von Mädchenhand.
Schicksal!, dachte er, das war mehr als das Wetter
Dieser Wind hat mein Leben letzte Nacht bestimmt.
Vor Aufregung schwindelig schrieb er weiter
Und flocht seine Neugier ins Geschehen mit ein
Und legte die Blätter ins Rosenbeet nieder
Und wartete ab, bis der Morgen kam.
In der ersten Stunde des neuen Tages
Lief das Mädchen die Straße hinauf
Sie war schon erschöpft vom langen Schulmarsch
Und müde von Arbeit und wenig Schlaf.
Doch sie freute sich sehr über die Papiere
Und griff sie sich durch den Eisenzaun
Und verschlang die Geschichte mit großer Freude
Und blickte schließlich zum Fenster hinauf.
Der Junge stand dort, wie vom Donner gerührt
Und hatte sie die ganze Zeit gesehn.
Nie hatte er solche Wärme verspürt
Das Mädchen da unten, es war so schön.
Sie hob die Hand und winkte ihm schüchtern
Und er spürte blass, wie er dasselbe tat
Dann schrieb sie ihm erneut eine Nachricht
Auf die freie Rückseite des letzten Blatts:
Bitte schreib weiter, bitte schreib mir wieder!
Der Junge las das sicher hundertmal
Zwischendurch, beim Schreiben, für sie am Schreiben
Und über sie schreibend, in Märchengestalt.
So kam es, dass er ihr jeden Morgen
Die Fortsetzung seiner Geschichte gab
Und es brauchte nicht lange, da ging es um Liebe
In dem Märchen und ihrer Gegenwart.
Drei Jahre blieb es so zwischen beiden
Und sie liebten sich heimlich und wussten es
Und warteten still aufs Erwachsenwerden
Um endlich frei und zusammen zu sein.
Doch das Mädchen war arm, man darf nicht vergessen!
Zu arm, um weiter zur Schule zu gehn
Die Eltern baten sie, Geld zu verdienen
Der Hunger drohte, man kam nicht umhin.
Sie war nun beteiligt als Arbeiterin
Am mächtigen, wichtigen Ölgeschäft
Und verbrachte täglich zwölf Stunden
An Maschinen und fühlte sich wie in Haft.
Nur einmal die Woche war es ihr möglich
Die Blätter zu heben aus dem Rosenbeet
Mit schwarz gewordenen, traurigen Händen
Und sie murmelte das Märchen wie ein Gebet.
Der Junge litt mehr als das Mädchen
An ihrer Armut, als er sie sah
Und er wusste, dass alles in seiner Umgebung
Mit ihrem Leben bezahlt worden war.
Aus Wut und Verzweiflung schrieb er Artikel
An die Nachrichtenblätter der großen Stadt
Und nannte die Verbrechen des Reichtumschaffens
Die es dem Mädchen und vielen antat.
Seine Eltern erschraken, als sie’s merkten
Sie hatten nicht gewusst, dass ihr Sohn schrieb
Und hatten nicht gewusst, was ihr Sohn dachte
Und es versetzte sie in Rage, dass er nicht war wie sie.
Da zwangen sie ihn, die Geschichte zu zeigen.
Und ohne zu lesen, riss der Vater sie klein
In aberhundert Fetzen wie weiße Schneeflocken
Schneeflocken mit schwarzen Tränen darin.
Allein saß der Junge im Schnipselhaufen
Und weinte bitter um das Mädchen und sich
Und all die Geschichten von ihm und dem Mädchen
Zerstört auf Papier, unmöglich in echt.
Er schlief schließlich ein, erschöpft vom Weinen
Und spürte nicht, dass ein Wind eindrang
Klammheimlich drang er durch das Fenster
Und nahm die Schnipsel in Empfang.
Das Mädchen, als es die Arbeit verließ,
fröstelte in der frühen Winternacht.
Da tänzelten hell in den Laternenschein
Schnipsel aus Papier, von warmen Winden gebracht.
Das Mädchen spürte ihr Herz zerbrechen
Als sie die Schrift vor sich tanzen sah
Und Arbeiter, die ihren Heimweg teilten
Sagten später, dass sie wahnsinnig war.
Denn das Mädchen tanzte mit den Flocken
Und fing den Schnee, als sei er ein Schatz
Und färbte ihn mit schmutzigen Händen
Und Tränen und rief: „Das war von seinem Märchen mein Lieblingssatz!“
Hey,
deine Kurzgeschichte ist echt wunderschön. Wenn auch traurig.
Es ist schade das sie nicht einmal persönlich miteinander geredet haben. Damit sie gewusst hätten wie ihre Stimmen klingen. Aber auf eine Art und Weise ist ihr Verhältnis noch viel persönlicher durch das Märchen, nicht wahr?
Ich wünschte mir, das auch meine Träume bei mir bleiben würden. Doch in den meisten Fällen entfliehen sie mir noch bevor ich die Augen aufschlug, und ich bleibe mit nichts mehr als einer verwirrenden Gefühlswolke zurück.
Aus ihr heraus schreibe ich auch manchmal, oder zeichne. Doch ich hab es nichtmal geschafft eine Geschichte zuende zu bringen. Sie alle stoppen mittendrin, oder sogar noch am Anfang. Ich hab das Gefühl das die Personen dann nicht mehr weiter können. Es wirkt als seien sie plötzlich gestorben, wie durch einen Windstoß. Ohne groß weitere Zeichen das sie jemals da gewesen sind wehen sie davon und hinterlassen nur eine Ahnung von Existenz.
Ich hoffe ich langweile dich nicht, wenn du’s überhaupt liest heißt das. Ich nehme an ich wollte dies nur mal aufschreiben.
Ganz liebe Grüße und mit Vorfreude auf ein weiteres Buch von dir,
Sophie Lilian
P.S.: Ist es ok das ich dich die ganze Zeit geduzt habe? Kam mir irgendwie falsch vor “sie” zu schreiben… Mein Lieblingsbuch ist übrigens “Das Drachentor” ;)
Es ist wunderschön. :)
Ich wüsste jetzt aber auch zu gerne, wie es weitergeht, wenn der Junge dann erwachsen ist…
Ohhhhh ♥ was für eine wunderschöne Geschichte.. sehr traurig, aber wunderschön! Wow… Solche Dinge möchte ich auch mal träumen, und dann nicht vergessen, sondern wie du niederschreiben!
Chapeau Miss Nuyen ♥ wunderbar! Und nochmal danke für das signierte “Noir” :-)
Liebe Lesegrüße
Sandra