21. Juli 2013

Erinnerung aus dem Spätwinter

Erinnerung

Aus dem Notizbuch, Februar 2013:

Ich stand am Bahnsteig und wartete die 7 oder 8 Minuten auf meine U-Bahn, da fiel mein Blick zufällig zu Boden, während ich (aus keinem Grund, an den ich mich erinnern kann) einen Schritt rückwärts machte. Da, auf dem Asphalt, waren die dunklen Abdrücke meiner Schuhe. Draußen war feiner Schneeregen gefallen, mehr Regen als Schnee, ein gefiederter Schlafregen. Er hatte sich an meine Schuhe geheftet, um meinen Schritten eine Spur zu geben.

Ich ging rückwärts nach rechts und betrachtete die blassschwarzen Abdrücke, die von meiner Vergangenheit blieben, dann ging ich zurück zum Ausgangspunkt und rückwärts nach links, sodass mein Ursprungsabdruck zwei Schwingen hatte. Das alles geschah in dem halben Bewusstsein, mit dem man sich sinn- und zweckfreien Dingen widmet, wenn man auf etwas wartet. Aber das menschliche Verhalten ist ja ein Spiegelkabinett; es reflektiert immer das Erleben, das von oben einfällt, oder das Empfinden, das von unten hinaufglost. Zumindest lässt unsere Lust am Interpretieren uns das glauben – wir finden gerne Muster, Zusammenhänge und Erklärungen für alles.

Egal ob die Symmetrie zwischen Erleben und Verhalten nun wahr ist oder nur Wahrnehmung, als ich den geflügelten Doppelfleck meines Standpunkts sah, fiel mir auf, dass er ein Symbol für die Natur von Gefühlen ist: Sie hinterlassen dunkle Fußspuren in der Zeit, und um Verständnis für sie zu gewinnen, muss man seine Perspektive immer wieder ändern, sich immer weiter entfernen. Das Erkennen, das sich selbst fortsetzt, hinterlässt eine Fährte, wächst zu Flügeln aus, trägt zuletzt den schwereren Leib des wirklich Empfundenen durch den Innenraum des Lebens. Verblassen muss trotzdem alles. Irgendwann. Wenn die Erinnerung keine bleibende Gestalt hat, was ist Erinnerung dann?

geschrieben von Jenny-Mai Nuyen - Veröffentlicht in Blog

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